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# taz.de -- Genitalverstümmelung: Bildung statt Rasierklingen
> "Ihr gebt mir eure Messer und ich bringe euch Lesen und Schreiben bei",
> sagt Rugiatu Turay zu den Frauen. Die Männer klärt Turay auf, die wussten
> fast nichts über grausame Ritual.
Bild: Tatsächlich betrinken sich viele der Frauen, weil sie es sonst selbst ni…
Die Messer liegen auf einem Tisch, lange Eisenstäbe mit verzierten Griffen,
Rasierklingen. Mit den Eisenstäben werden Mädchen während des Rituals
geschlagen. "Damit sie brüllen wie Affen", sagt Rugiatu Turay und sie ahmt
die Schreie nach. Mit den Rasierklingen wird ihnen die Klitoris
abgeschnitten. Jetzt aber werden sie niemanden mehr verletzen. Ihre
Besitzerinnen haben sie bei einem öffentlichen Gelübde abgegeben und vor
dem ganzen Dorf geschworen, nie wieder ein Mädchen zu verstümmeln.
Es ist ein ungewöhnlicher Versuch, der hier in Port Loko im Nordwesten von
Sierra Leone stattfindet. Ausgerechnet in einem Land, das nach elf Jahren
Bürgerkrieg nur für seine Grausamkeit bekannt war. Und das so arm und so
kaputt ist, dass es nach dem UN-Weltentwicklungsbericht an drittletzter
Stelle aller Länder liegt. Nirgendwo sonst sterben so viele Kinder und so
viele Mütter, was auch daran liegt, das zwischen 85 und 95 Prozent der
Frauen an den Genitalien verstümmelt sind. Ein Gesetz, das dies verbietet,
gibt es nicht.
Sie lässt ihnen die Würde
Was Rugiatu Turay praktiziert, könnte man als ein aufklärerisches
Experiment bezeichnen, eine Lektion in Sachen Humanismus. Eine Frau
bekämpft ihre Feindinnen, doch sie lässt ihnen ihre Würde, denn die
Frauenrechtlerin Turay geht mit den Frauen, die fast alle Analphabetinnen
sind, einen Tauschhandel ein: Ihr gebt mir eure Messer und ich bringe euch
dafür Lesen und Schreiben bei. Bildung gegen Genitalverstümmelung.
Die 34-Jährige ist in Port Loko aufgewachsen und gründete dort die
Frauenrechtsorganisation AIM (Amazonian Initiative Movement). Sie weiß,
dass sie nur so gewinnen kann. Geschätzt soll es 50.000 Frauen in Sierra
Leone geben, die Genitalverstümmlungen vornehmen. Diese Frauen genießen ein
hohes Ansehen, meistens sind sie auch Hebammen und Heilerinnen. "Man kann
diese Frauen nicht einfach an den Pranger stellen und sagen: Ihr seid
böse!"
Wenn Kadiatu Fofanah erzählt, wie sie ihr Metier beherrschte, ist noch
immer Stolz zu spüren. Sie sitzt vor ihrer Wellblechhütte in einem weißen
Kleid mit Perlenkette wie eine Königin, um sie herum steht die ganze
Nachbarschaft. Sie war jung, sagt sie, vielleicht dreizehn, als sie ihren
Beruf erlernte. Zwei Jahre dauerte ihre Lehre im Busch. Sie aß und schlief
zusammen mit den Ausbilderinnen. "So wie andere lernen, einen Stift zu
halten, lernte ich, wie man die Rasierklingen benutzt." Und sie sei gut
gewesen. "Weil ich den Mut hatte, genau hinzusehen."
Tatsächlich betrinken sich viele der Frauen, weil sie es sonst selbst nicht
aushalten. Oder sie sind alt und fast blind. "Dann schneiden sie zu viel
weg", sagt Frau Fofanah mit dem Selbstverständnis einer Chirurgin. Sie habe
immer mit klarem Kopf gearbeitet, unter ihren Händen sei nie ein Mädchen
gestorben. Doch sie hat andere sterben sehen. Nur wusste sie wie die
meisten ihrer Kolleginnen nicht, warum.
"Wenn ein Mädchen im Busch starb, glaubten die Frauen, sie sei von Dämonen
besessen gewesen", sagt Rugiatu Turay. Erst AIM klärte über die Ursachen
auf. Monatelang zog Turay mit ihren Mitarbeitern über die Dörfer. Sie
hatten aufklappbare Körpermodelle dabei, an denen sie die Folgen des
grausamen Rituals erklärten: Unfruchtbarkeit, Blasenschwäche, Entzündungen.
Den Männern waren die Zusammenhänge nicht klar
Den meisten war der Zusammenhang nicht klar, am wenigsten den Männern.
Einmal, sagt die Frauenrechtlerin, lud sie einige Imame und Häuptlinge ein.
Sie braucht die Dorfchefs, weil die Lizenzen ausstellen, ohne die die
Frauen nicht praktizieren dürfen. "Wir haben ihnen einen Film über ein
Initiationsritual gezeigt, danach waren sie so geschockt, dass ein Imam
beschloss, seine acht Töchter nicht beschneiden zu lassen - gegen den
Willen seiner Frau." In der Moschee wetterte der Imam fortan gegen
Genitalverstümmelung und Frau Fofanah legte daraufhin ihren Beruf nieder.
Sie sagt, sie fühle sich heute schuldig für das, was sie getan hat.
Angst vor den Flüchen
Als Rugiatu Turay vor sieben Jahren in ihrer Heimatstadt Lunsar AIM
gründete, brach sie ein Tabu. Sie erhielt Morddrohungen. Die
Genitalverstümmlung wird hier von den Mitgliedern eines weiblichen
Geheimbunds ausgeübt, der so genannten Bundo-Gesellschaft. Sie unterliegt
einem Schweigegebot. Und wer dieses Schweigen bricht, sei, so heißt es,
verflucht. "Dein Bauch kann anschwellen und platzen, du wirst unfruchtbar,
du wirst verbluten", lautet einer der Flüche. Rugiatu Turay ist damit
aufgewachsen. Doch schon als junges Mädchen glaubte sie nicht mehr daran.
Sie war zwölf, und wäre fast verblutet. Erst nach einer Woche konnte sie
wieder laufen.
Die AIM-Chefin lebt anders als die meisten Frauen hier. Sie ist nicht
verheiratet und hat keine Kinder. Allerdings wohnen gerade fünfzehn
Mädchen, die vor dem Ritual geflohen sind, bei ihr. "In drei Zimmern
schlafen die Mädchen, eins habe ich für mich", sagt sie und lacht. Ihr Tag
ist voll. Morgens Schulbesuche, wo ihr Verein Aufklärungskurse gibt,
mittags Treffen mit Imamen, Häuptlingen und Pfarrern - mit allen Männern,
die etwas zu sagen haben - in einer Lehmhütte, in der man sich wie in einem
Backofen fühlt. Rugiatu Turay scheint die Hitze nichts auszumachen. Sie
debattiert mit den Männern, laut und mit großen Gesten, und sieht dabei
auch noch ausgesprochen gut aus. Nur aus der Nähe sind ein paar
Schweißtropfen auf ihrer Stirn zu sehen. Nachmittags fährt sie in die
Dörfer.
Jetzt in der Trockenzeit, wenn die Lehmpisten befahrbar sind, kann sie auch
zu den Gemeinden tief im Busch gelangen. Der Geländewagen holpert durch
dichtes Grün, Palmwedel streifen das Fenster. Nach einer halben Stunde
taucht Mathaska auf, ein typisches Dorf - Wellblechhütten, kein Strom,
keine sauberen Latrinen, Müll hinter den Hütten. Die Schule ist ein
Bretterverschlag. im Schatten eines Mangobaums hat sich das ganze Dorf
versammelt.
Man kann viel kritisieren in Sierra Leone, die Korruption, die Ineffizienz,
aber in einem Punkt ist das Land vorbildlich: Muslime und Christeån
tolerieren einander. Neben dem Imam sitzt der Pfarrer. Und genauso
selbstverständlich wie ein Muslim eine Christin heiratet, betet jetzt die
ganze Gemeinde zu Gott.
Das Gebet hilft vielleicht besser zu ertragen, was nun passiert. Es ist nur
ein Spiel, aufgeführt von einigen Kindern, doch es zeigt genau, wie das
Ritual abläuft und wie das Mädchen verblutet. Als es auf dem Boden liegt,
zerdrückt ein Mitspieler rote Beeren auf ihren gespreizten Beinen.
Hinterher deklariert eine Zwölfjährige mit bebender Stimme: "Ich bin auch
unbeschnitten eine richtige Frau." Eine andere ruft: "Gott hat mir eine
Klitoris geschenkt. Warum soll ich sie dann abgeben?" Sie wehren sich gegen
den Mythos, der sagt, dass eine Frau erst dann vollständig ist, wenn ihr
etwas fehlt. Die Klitoris gilt im Verständnis ihrer Kultur als ein
überflüssiges männliches Anhängsel, eine Art "kleiner Penis".
Für die Frauen im Publikum ist das Drama wie ein Spiegel. Die Kinder
spielen, was die älteren erlebt haben - nur dass sie es überlebten. Und was
ist es für die Männer? Einer von ihnen tritt vor, ein dünner Mann in Kaftan
und Gummilatschen, der Häuptling des Dorfes: "Ohne Rugiatu Turay wüssten
wir das alles nicht. Sie hat uns ermutigt, darüber zu sprechen."
Trotzdem wird in diesem Dorf Genitalverstümmelung noch praktiziert. Zwar
verweigern sich immer mehr Mädchen, dafür wird die Praktik aber zunehmend
an Kleinkindern vollzogen. Oder die Soweis – so nennt man hier die Frauen,
die das Ritual praktizieren – greifen zu Tricks und überfallen die Mädchen
beim Wasserholen, ziehen sie in den Busch und bedrängen sie so lange, bis
sie nachgeben. Das hat auch ökonomische Gründe. Bisher haben die Frauen gut
verdient, eine Beschneidung kostet mindestens 30 Dollar, viel Geld in einem
Land, in dem 2009 das durchschnittliche Jahreseinkommen bei 900 Dollar lag.
Das Geld wird zwar zum großen Teil für die Zeremonie verbraucht, für Essen
und Getränke, doch vom Rest kaufen sie Lebensmittel für ihre Familien.
"Weil es Blutgeld ist"
Warum investieren sie aber dieses Geld nicht in eine neue berufliche
Zukunft? Man könnte damit schließlich ein Geschäft aufbauen? "Weil es
Blutgeld ist", sagt eine 45-Jährige geradeheraus. "Wovon soll ich also
leben, wenn ich aufhöre?"
Rugiatu Turays Organisation bietet ihnen deshalb nicht nur Unterricht in
Lesen und Schreiben an, sondern auch Kurse, die ihnen eine neue berufliche
Perspektive ermöglichen. Die Frauen können dort ihre landwirtschaftlichen
Kenntnisse verbessern, neue Methoden der Kleinviehzucht lernen oder lernen,
wie man Seife macht. Auch Kadiatu Fofanah hat daran teilgenommen. Sechs
Monate lang lief sie jeden Morgen die New Makeni Road in Lunsar entlang,
zum ersten Mal in ihrem Leben besuchte sie in eine Berufsschule. Sie
lernte, Saatgut besser zu reinigen und saubere Ställe für das Vieh zu
bauen. Aber ihr größter Stolz ist etwas anderes: "Ich kann jetzt meinen
Namen schreiben."
Im Moment verdient sie nichts. Das Blechdach ihrer Hütte ist voller Löcher.
Wenn die Regenzeit kommt, sitzt die Familie mit Schirmen im Haus. Frau
Fofanah wartet noch auf ihr öffentliches Gelübde. Denn erst wenn sie drei
Jahre wirklich das Ritual nicht mehr praktiziert hat, darf sie daran
teilnehmen. Vielleicht, so hofft sie, wird sie dann eine Ziege bekommen
oder einen kleinen Kredit. Und dann wird sie Rugiatu auch ihre Messer
geben.
14 May 2010
## AUTOREN
Ariane Heimbach
## TAGS
Beschneidung
Genitalverstümmelung
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