# taz.de -- 100 Jahre FC St.Pauli: Das Freudenhaus der Medien | |
> Der FC St. Pauli wird am heutigen Samstag 100 Jahre alt, doch sein | |
> besonderes Image ist viel jünger. Vor gut 20 Jahren formte das | |
> Privatfernsehen einen Mythos, den die Medien seitdem hegen und pflegen. | |
Bild: Viel Drumherum im Stadion: Die Fankultur des FC St. Pauli wurde Ende der … | |
Der FC St. Pauli - der etwas andere, der besondere Verein. Das Image, das | |
der Club vom Kiez heute trägt, begleitet ihn seit nicht einmal einem | |
Viertel Jahrhundert. Bis Mitte der Achtzigerjahre wird das öffentliche Bild | |
des Vereins vor allem durch seine chronische Finanznot geprägt. Gegenüber | |
dem großen Bruder HSV ist der Club eher der kleine Rivale als der Underdog. | |
Fanstrukturen, die das mausgraue Image des Vereins - auf den auch nie das | |
Etikett des Arbeiterclubs passte - farbiger gestalten könnten, gibt es | |
nicht. In der Saison 1985/1986 säumen im Schnitt gerade mal 2.500 Besucher | |
die Stadionränge. Doch schon im Jahr darauf pilgern plötzlich - zunächst in | |
kleinen Scharen - völlig neue Fangruppen ins Wilhelm-Koch-Stadion und | |
begründen den bis heute währenden Mythos. Die Hausbesetzerszene rund um die | |
umkämpften Zeilen in der Hafenstraße entdeckt den Club, in dem einer der | |
ihren, Volker Ippig, das Tor hütet. Erstmals weht ein weißer Totenkopf auf | |
schwarzem Grund über der Gegengerade. | |
Bald schon stürzen sich die Medien auf die neuen Fangruppen, etwa auf den | |
"schwarzen Block", der auf der Gegengeraden in der zweiten Hälfte der 80er | |
Jahre Einzug hält. Links-autonome Fangruppen, das ist eine Novität. | |
Plötzlich existiert ein Club dessen Fans "Nazis raus" brüllen, | |
Totenkopf-Kapuzenpullis tragen und lieber kiffen als saufen. | |
Einen wichtigen Anteil am Imagewandel hat die Torwartikone Volker Ippig. | |
Dessen Vergangenheit als Entwicklungshelfer im revolutionären Nicaragua und | |
Hafenstraßen-Hausbesetzer passt nicht nur für den Kicker "so gar nicht in | |
das Klischee vom aufstrebenden Berufsfußballer mit Eigenheim, Familie und | |
teurem Auto". | |
"Hier entstand etwas komplett Neues, was die Fußball-Nation bis dahin noch | |
nicht kannte", glaubt der Journalist und heutige Teamchef des FC St. Pauli, | |
Christian Bönig. Gierig saugen die Medien das Bild vom etwas anderen Verein | |
mit dem etwas anderen Publikum auf und präsentieren es - nicht frei von | |
Klischees und Übertreibungen - der Öffentlichkeit. So fokussiert etwa der | |
Tagesspiegel die Aufstiegsfeierlichkeiten 1988 in dem Bild des "Punks in | |
der Lederjacke, Arm in Arm mit dem Anwalt in Fiorucci-Jäckchen". | |
Doch seinen bundesweiten Hype verdankt der FC St. Pauli vor allem einem | |
Wandel in der Sportberichterstattung. Die altehrwürdige "Sportschau", mit | |
ihrem seit Jahren erprobten nachrichtlichen Konzept der Aneinanderreihung | |
kurzer, rein auf das sportliche Geschehen bezogener Spielberichte bekommt | |
Konkurrenz. | |
Mit "Anpfiff" geht im August 1988, zeitgleich mit der ersten | |
Bundesligapartie des FC St. Pauli, auf dem Privatsender RTL die erste | |
"Fußballshow" auf Sendung. Die Sendezeit kann nicht allein mit üppigen | |
Werbeblöcken, Torraumszenen und Querpässen gestaltet werden. "Das war | |
fußballerisch oft schwer zu füllen", erinnert sich der frühere | |
RTL-Sportchef und Anpfiff-Moderator Ulli Potofski, "so dass die | |
Berichterstattung um das drumherum einer Partie größer und ausgiebiger" | |
wurde. "Wir waren immer auf der Suche nach schrägen Geschichten, weil wir | |
glaubten, den Fußball darüber etwas anders darstellen zu können", erinnert | |
sich Potofski. | |
Fußball wird fortan als Gesamtkunstwerk inszeniert und der FC St. Pauli mit | |
seinen Fans erweist sich als besonders telegen. Die sportliche graue Maus | |
der Bundesliga wird für "Anpfiff", so Potofski, "zum bunten Farbtupfer" der | |
Berichterstattung. "Während wir bei anderen Vereinen nach Kuriosem und | |
Skurilem mühsam suchen mussten, trat das am Hamburger Kiez geballt auf." | |
"Das Privatfernsehen war für die Entstehung des bundesweiten Mythos die | |
treibende Kraft", ist sich der Sportjournalist Lutz Wöckener vom Hamburger | |
Abendblatt sicher. "Diese Berichterstattung hat dem Club seine Etiketten | |
aufgeklebt und über die Stadtgrenzen hinausgetragen. Als das | |
Privatfernsehen begann, den Club mit Totenkopfflaggen und | |
Gegengeraden-Punks abzufeiern, hat das neue Fangruppen angezogen." | |
Tatsächlich pilgern immer mehr Menschen ans Millerntor, die Sport und | |
Politik in einen engen Zusammenhang miteinander stellen - Fans, die es in | |
dieser Form und Zahl in keinem anderen Stadion der Republik gibt. Der | |
Leitspruch dieser Szene - "Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus, nie | |
wieder 3. Liga" - bringt diese Verknüpfung auf den Punkt. Zahlreiche | |
Fanaktionen gegen nationalistisches und rassistisches Gedankengut künden | |
von dieser Politisierung des Publikums. | |
Das Bild des FC St. Pauli wird seit Ende der Achtzigerjahre zudem über | |
griffige Etiketten transportiert, die oft mediale Erfindungen sind. Die | |
Spieler werden ganz selbstverständlich als "Kiez-Kicker" inszeniert, das | |
Privatfernsehen bedient unter dem Slogan "Freudenhaus der Liga" das Bild | |
der unaufhörlich feiernden, dem verbissenen Wettkampf abschwörenden Fans | |
aus dem weltbekannten Rotlichtviertel. | |
Auch die Vermarkter des Vereins begreifen langsam, dass sich aus dem | |
Imagewandel, der sich ohne ihr Zutun herauskristallisiert hat, Kapital | |
schlagen lässt. Nachdem die Merchandise GmbH den Totenkopf als offizielles | |
Vereinslogo etabliert hat, heftet sie dem Verein das Etikett der | |
"Freibeuter der Liga" an. Und als der FC St. Pauli die großen Münchner | |
Bayern Anfang 2002 am Millerntor besiegt, festigt der von den | |
Marketing-Strategen kreierte Begriff des "Weltpokalsiegerbesiegers" das | |
Underdog-Image. Der Verein wird als Lebensgefühl inszeniert. "Keiner | |
schlägt aus Kult professioneller Kapital", lobt etwa das Handelsblatt den | |
Verein. | |
Nach wie vor wird der Club als widerspenstiges gallisches Dorf in einer | |
kommerzialisierten Fußballwelt in Szene gesetzt. "Die Tendenz in der | |
Medienlandschaft geht hin zu schwarz-weiß, klaren Etiketten, A oder B", | |
glaubt Lutz Wöckener. "Da ist der FC. St. Pauli fett in seiner Nische und | |
wird es bleiben, so lange das Quote, Leserschaft, Fanartikelabsatz bringt." | |
14 May 2010 | |
## AUTOREN | |
Marco Carini | |
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