# taz.de -- Thema Missbrauch auf dem Kirchentag: Nicht darüber reden, sondern … | |
> Auf den überfüllten Veranstaltungen zum Thema Missbrauch wird deutlich: | |
> Der Skandal hat einiges freigesetzt. Und der Jubel ist laut, wird die | |
> Abschaffung des Zölibats gefordert. | |
Bild: Die Veranstaltungen zum Thema Missbrauch sind enorm gut besucht. | |
MÜNCHEN taz | Plötzlich taucht ein Mann vor der Bühne auf und zieht sofort | |
alle Fernsehkameras auf sich. "Wir wollen uns selbst vertreten", ruft er, | |
"es ist alles ein Lügentheater. Nicht Sie haben das Schweigen gebrochen, | |
sondern die Opfer." | |
Oben auf der Bühne steht Klaus Mertes, der Rektor des Canisius-Kollegs in | |
Berlin, der durch seine offene Reaktion auf Missbrauchsvorwürfe an seiner | |
Schule die bundesweite Diskussion ausgelöst hat. Das Publikum möchte lieber | |
ihn hören. Und der Beauftragte der katholischen Bischöfe für die | |
Missbrauchsfälle, Bischof Stephan Ackermann, wird die Szene später | |
geschickt nutzen, um das Gespräch wieder von den politischen Forderungen an | |
die katholische Kirche wegzulenken. "Natürlich müssen wir auch darüber | |
sprechen, aber ich habe gerade das Gefühl, dass die Opfer aus dem Blick | |
geraten." | |
Immer wieder entsteht der Eindruck, Ackermann wolle ausweichen oder | |
beschwichtigen. Das Publikum quittiert dies mit Pfiffen. Umso lauter ist | |
der Jubel, wenn mal wieder die Abschaffung des Zölibats gefordert wird, die | |
Zulassung von Frauen zur Priesterschaft oder die Akzeptanz von | |
Homosexualität. Die Missbrauchsfälle haben offensichtlich etwas | |
freigesetzt. | |
Die Veranstaltungen zum Thema Missbrauch sind auf dem Kirchentag enorm gut | |
besucht; 1.500, zuweilen sogar 6.000 Menschen drängeln sich da. Doch wenn | |
auf dem Podium Änderungen gefordert werden, viele klatschen und eine | |
Bewegung durch den Raum geht, sieht man zwischendrin viele Besucher, die | |
ihre Stirn runzeln oder starr den Mund zusammenpressen. | |
Gerade von jemandem wie Wunibald Müller, dem Leiter des Recollectio-Hauses, | |
erwartet man Antworten auf die Fragen, wie auch Geistliche moralisch so | |
versagen konnten und was von kirchlicher Seite nun zu tun ist. In seinem | |
Recollectio-Haus, ebenso wie im evangelischen Pendant, dem Haus Respiratio, | |
werden Geistliche betreut, die nicht mehr weiterwissen, die ein Burn-out | |
haben. Müller sagt: "Männer und Frauen, die in der Kirche arbeiten, sind | |
nicht weniger anfällig für psychische Schäden als andere Menschen." Man | |
müsse lernen, die eigene Begrenztheit anzuerkennen und manchmal auch die | |
eigene Erbärmlichkeit. | |
Für Aussagen, die an verbreiteten Ideologien kratzen, gibt es besonders | |
viel Applaus. Wie etwa die des Respiratio-Leiters Hans-Friedrich Stängle, | |
die "Ideologie des bedürfnislosen Helfers" sei für so manches Unheil in der | |
Kirche verantwortlich. Durch die Verleugnung des Angewiesenseins auf andere | |
entstehe eine ganze Palette dysfunktionaler Beziehungen. Es gehe also | |
darum, sich die eigene Bedürftigkeit einzugestehen. | |
Auch der Benediktinermönch Anselm Grün hält das überhöhte Ideal eines | |
Priesters für eine Ursache sexuellen Missbrauchs. Den Zölibat macht er | |
nicht explizit dafür verantwortlich, sagt aber: "Verdrängte Sexualität | |
sucht eben immer nach einem Ausweg." Es seien gerade die verdrängten | |
Bedürfnisse, die ausgelebt werden. Sein Plädoyer für eine Wahl der Pfarrer | |
zwischen zölibatärem und ehelichem Leben erhält enorme Zustimmung vom | |
Publikum. Für ihn sei die Ehelosigkeit der richtige Weg gewesen. "Aber ich | |
erlebe viele Priester, die daran gescheitert sind und bei denen ich sagen | |
würde, es wäre gut, wenn sie weiter Priester sind." | |
Eine ganz andere Realität zeigt eine Podiumsdiskussion mit denjenigen, die | |
praktisch zum Thema Missbrauch arbeiten. Im Gespräch mit | |
Sozialarbeiterinnen, Traumatherapeuten und Richterinnen geht es ganz | |
konkret um die Frage, wie man die Opfer besser betreuen kann. Es fehlen | |
finanzielle Mittel, es fehlen Therapieplätze, und die Prävention kommt zu | |
kurz, wenn die Kapazitäten nicht einmal für die akuten Fälle reichen. "Die | |
Gesellschaft versagt auch heute noch grundlegend beim Thema sexualisierte | |
Gewalt", sagt Ursula Enders von der Opferhilfe Zartbitter. Es gehe doch nur | |
um eine "ganz einfache Versorgung", wie sie jedes Unfallopfer in | |
Deutschland erhalte. | |
Für Institutionen, in denen Kinder betreut werden, sei es sinnvoll, einen | |
Verhaltenskodex für den Umgang mit diesen festzulegen. Denn dann merke man | |
eher, wenn sich das Verhalten eines Mitarbeiters bereits in einer Grauzone | |
befinde. Viele, die in kirchlichen Institutionen missbraucht worden seien, | |
wollten gerade nicht deren Beratungsangebote nutzen. Deshalb sagte Enders: | |
"Ich fände es gut, wenn die Kirche unsere Arbeit unterstützen würde." | |
15 May 2010 | |
## AUTOREN | |
Karin Schädler | |
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