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# taz.de -- 50 Jahre Paramiliärs in Kolumbien: Gesetz ohne Urteile
> Seit 50 Jahren treiben rechte paramilitärische Organisationen ihr Unwesen
> in Kolumbien. Doña Olivia wartet noch immer auf einen Hinweis über das
> Schicksal ihrer Tochter.
Bild: Ein Junge betrachtet Bilder von Getöteten in Bogota, 2007.
BARRANQUILLA taz |Es ist 9 Uhr morgens an einem verregneten Tag in
Barranquilla, der Hauptstadt von Kolumbiens Küstenprovinz Atlántico. Im
dritten Stock des örtlichen Justizgebäudes soll in wenigen Minuten die
Vernehmung eines ehemaligen Paramilitärs der Autodefensas Unidas de
Colombia durch die Sonderstaatsanwaltschaft für Gerechtigkeit und Frieden
beginnen. Der Mann hatte einer der zahlreichen bewaffneten Einheiten des
Bloque Norte angehört, der die gesamte Karibikküste Kolumbiens
kontrollierte, bevor er im Rahmen des Friedensabkommens die Waffen
niedergelegt hat. Von dem Ex-Para erhofft man sich detaillierte Hinweise
auf Funktionsweise und Verbrechen des Bloque Norte, die im Namen der
Aufstandsbekämpfung an vermeintlichen und wirklichen Guerillas und an der
Zivilbevölkerung begangen wurden.
Heute allerdings sagt nicht einer der führenden Köpfe der Paramilitärs aus,
sondern nur einer der unteren Chargen. Ein Befehlsempfänger. Entsprechend
gering ist das Interesse der Öffentlichkeit. "Über die einträglichen
Geschäfte der Paramilitärs mit Lokalverwaltungen und Politikern hier in der
Region werden wir von dem wohl nichts erfahren", meint ein Skeptiker unter
den Zuschauern, die sich im Besucherraum der Staatsanwaltschaft eingefunden
haben. Nur zehn Zuschauer sitzen in dem kleinen Saal, um die Vernehmung auf
einer Videoleinwand zu verfolgen. "Für Sie, Doña Olivia, hoffe ich, dass es
endlich Neuigkeiten gibt über Ihre Tochter", fügt der Besucher hinzu und
nickt aufmunternd in Richtung einer kräftigen Frau mit sorgenvollen
Gesichtszügen. Sie sitzt ganz hinten in dem kleinen Raum und wartet
geduldig auf den Beginn der Anhörung. Schon zum dritten Mal innerhalb eines
halben Jahres ist sie aus ihrem Dorf in den Ausläufern der Sierra Nevada
von Santa Marta angereist. Jeweils einen halben Tag hin und einen halben
zurück für insgesamt sechs lange Vernehmungstage, mit stets wechselnden
Tätern und ihren immer ähnlich teilnahmslos wirkenden Schilderungen
grausamer Verbrechen.
Als der Aussagewillige mit einer Stunde Verspätung endlich auf der Leinwand
erscheint, spannen sich Doña Olivias Gesichtszüge an. Aufmerksam wird sie
die nächsten Stunden zuhören, bis ihr Moment gekommen ist und sie ihre
Fragen über eine Gegensprechanlage an den zwei Stockwerke über ihr
sitzenden jungen Mann richten kann: "Erinnerst du dich an meine Tochter?
Sie war 19, als ihr sie im März 2005 aus unserem Dorf verschleppt habt. Und
sie hatte zwei kleine Kinder. Was habt ihr mit ihr gemacht? Warum musste
sie sterben? Und wo habt ihr sie vergraben?" Auf der Leinwand schiebt der
Staatsanwalt dem jungen Paramilitär ein Foto von Doña Olivias Tochter zu.
Gedächtnisstütze für einen Mörder, der so viele Verbrechen begangen hat,
dass er sich an einzelne Opfer nicht erinnern kann oder will. Auch die
junge Frau auf dem Foto erkennt er nicht. Stattdessen wird er später
Angaben über den Ort eines Massengrabes machen, bei dessen Aushebung er
mitgeholfen hat. Es ist möglich, dass auch Doña Olivias Tochter dort
verscharrt liegt.
Die Anhörungen von ehemaligen Paramilitärs sind das Kernstück eines höchst
umstrittenen Verfahrens, das unter der Bezeichnung "Ley 795 - Justicia y
Paz" (Gesetz über Gerechtigkeit und Frieden) seit fünf Jahren in Kraft ist.
Das nach heftigen Parlamentsdebatten auf Betreiben von Präsident Uribe 2005
erlassene Gesetz sollte die Demobilisierung und die gesellschaftliche
Reintegration der Paramilitärs beschleunigen. Es sieht erheblichen
Straferlass für Paramilitärs, aber auch für die Kämpfer der Guerilla vor,
die sich demobilisieren und ihre Waffen abgeben. Statt bis zu 60 Jahren
Freiheitsstrafe, wie sie die ordentliche Gerichtsbarkeit für schwere
Menschenrechtsverbrechen vorsieht, können die Täter mit fünf bis acht
Jahren davonkommen, sofern sie umfassende Geständnisse ablegen. Außerdem
müssen sie ihr illegal erworbenes Vermögen einem staatlich verwalteten
Opferfonds übergeben. Und sie dürfen nicht wieder straffällig werden.
Den Opfern des Paramilitarismus bietet das Gesetz 795 Gelegenheit, die
Anhörungen live zu verfolgen und durch Befragung der mutmaßlichen Täter
Aufklärung über das Verschwinden oder den Tod ihrer Angehörigen zu
bekommen. Zudem haben alle im Rahmen von "Justicia y Paz" anerkannten und
registrierten Opfer, das sind zurzeit über 250.000, ein Recht auf besondere
Sozialleistungen, auf Wiedergutmachung und materielle Entschädigung. So
steht es auf dem Papier, doch die Wirklichkeit sieht anders aus.
"In fünf Jahren ist nicht ein einziges Urteil auf der Grundlage dieses
Gesetzes gefällt worden", moniert der deutsche Staatsanwalt Andreas Forer.
Im Auftrag des Auswärtigen Amtes berät er die kolumbianischen Kollegen bei
der Umsetzung der Ley 795. "Von den rund 35.000 Paramilitärs, die sich im
Rahmen des Friedensabkommens demobilisiert haben und die jetzt in
irgendwelchen Wiedereingliederungsprozessen stecken, haben sich nur 10
Prozent freiwillig dem Verfahren von Justicia y Paz gestellt." Und von
diesen wiederum, so kritisieren auch kolumbianische Menschenrechtsgruppen,
sei nur ein Bruchteil in vollem Umfang kooperationswillig. Die Mehrheit der
zunächst Aussagewilligen sei nach den ersten Anhörungen aus dem Programm
ausgestiegen. Bislang musste sich niemand von ihnen in einem normalen
Strafverfahren verantworten. Es ist gut möglich, dass sie völlig straffrei
ausgehen. Schlamperei eines völlig überlasteten Justizapparates oder
absichtsvolle Strategie von höherer Stelle?
"Ganz eindeutig Letzteres", meint Danilo Rueda von der ökumenischen
Menschenrechtskommission für Gerechtigkeit und Frieden. "Uribe hatte nie
vor, mit diesem Gesetz die Wahrheit ans Licht zu bringen." Stattdessen, so
seine These, sollten Tausende von Anhörungen und Zeugenaussagen das ganze
System in den Kollaps treiben und damit die Strafverfolgung der eigentlich
Schuldigen verhindern. Diese Rechnung ging allerdings nicht auf. Denn die
Aussagen ranghoher Paramilitärs über ihre Verbindungen hinein in Politik,
Militär und Unternehmerschaft haben den Obersten Gerichtshof auf den Plan
gerufen. Der fing an, unabhängig von Justicia y Paz zu ermitteln und das
ganze Ausmaß der sogenannten Parapolitik ans Licht zu bringen. Um die 30
Prozent der Kongressabgeordneten, so heißt es inzwischen, seien von der
Parapolitik durchseucht. Etliche Kongressabgeordnete, Gouverneure und
Lokalpolitiker sitzen mittlerweile im Gefängnis. Die meisten sind zu weit
höheren Strafen verurteilt worden, als sie die Paramilitärs im Verfahren
Justicia y Paz zu erwarten haben. Da der Staat seine Verantwortung an den
Verbrechen im Rahmen der Aufstandsbekämpfung stets negiert hat, sind seine
Funktionäre, Politiker und Militärs vom Gesetz 795 ausgenommen. Ihre
Verbrechen werden nach der normalen Strafjustiz abgeurteilt.
Trotz dieses unbeabsichtigten Seiteneffekts betrachtet Marco Romero,
Direktor der Menschenrechtsorganisation Codhes, das Gesetz 795 als
gescheitert. "Da es bisher noch kein einziges Urteil produziert hat, gibt
es auch keine Entschädigung für die Opfer. Damit ist ein zentraler Punkt
des Verfahrens, die Wiedergutmachung, auf der Strecke geblieben."
Dieser Kritik zum Trotz arbeitet man bei der Sonderstaatsanwaltschaft in
Barranquilla auf Hochtouren an der Abarbeitung der Aktenberge. "Das sind
alles Zeugenaussagen von Opfern des Paramilitarismus aus unserer Region",
erklärt die leitende Staatsanwältin Zeneida Lopez und deutet auf Berge von
Formularen mit schwer leserlicher Handschrift, die überall im Großraumbüro
aus den Regalen quellen.
Auf diesen Formularen sind Tausende von Einzelschicksalen dokumentiert, mit
Datum, Ortsangabe und genauer Beschreibung der Taten, derer die Paras von
den Opfern beschuldigt werden. "Das hilft uns später bei den Anhörungen,
die Aussagen der Beschuldigten auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen."
Zuvor aber müssen die Formulare ins Computersystem eingespeist werden.
Damit sind allein in Barranquilla ein knappes Dutzend Schreibkräfte
beschäftigt. 311.000 Aussagen seien schon im System, und noch immer kämen
täglich neue hinzu, kommentiert Staatsanwältin Lopez die Sisyphosarbeit. In
den anderen Zweigstellen der Sonderstaatsanwaltschaft in Medellín und Cali
und in der Zentrale in Bogotá sehe es ähnlich aus. Auf dieser Ebene
juristischer Vergangenheitsbewältigung meint man es ganz offensichtlich
ernst mit der Wahrheitsfindung. Auch wenn man dabei in eine Sackgasse
geraten ist.
Der Präsident der Nationalen Versöhnungskommission, Eduardo Pizarro, zieht
dennoch eine positive Bilanz: "Wir haben immerhin erreicht, dass heute
öffentlich über die Verbrechen der illegalen Gruppierungen, über
Wiedergutmachung und die Ansprüche der Opfer diskutiert wird. Noch vor
zehn, fünfzehn Jahren existierte der Opferbegriff gar nicht im öffentlichen
Bewusstsein. Jetzt aber haben die Opfer eine Stimme und sind organisiert.
Das ist ein großer Erfolg."
Für Betroffene wie Doña Olivia bietet das Verfahren allemal eine Chance.
Sie hofft noch immer, dass sie mit Hilfe der Anhörungen eines Tages die
Leiche ihrer Tochter und damit wenigstens ein Stück ihres Seelenheils
wiederfinden wird.
19 May 2010
## AUTOREN
Jutta Bangel
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