# taz.de -- Google Street View: Das Auge, das lauschte | |
> Google fotografiert derzeit weltweit Straßen und Häuser. Nebenbei hörte | |
> der Suchmaschinenkonzern Internetnutzern in drahtlosen Netzen zu und | |
> speicherte das Mitgeschnittene. | |
Bild: Der wirkliche Schaden ist auf der Vertrauensebene: Google Street View-Aut… | |
Auf dem Weg zum Speisewagen erfährt man über die Mitreisenden im ICE | |
einiges: Wer an den Sitzen vorbeigeht, hört einzelne Worte oder Sätze, wenn | |
sich Bahnreisende, an denen man vorbeikommt, unterhalten oder wenn sie | |
telefonieren. Man kann auch kurze Blicke auf aufgeklappte Laptopbildschirme | |
werfen. Man bekommt einen Eindruck, womit sich die Reisenden beschäftigen, | |
ob sie dienstlich oder privat unterwegs sind. Wer mehr erfahren möchte, | |
müsste stehen bleiben und ihnen heimlich über die Schulter sehen. | |
Jeder Zugreisende kennt dieses flüchtige Zuhören im Vorbeigehen. Es regt | |
niemanden auf. Doch eine ähnliche flüchtige Lauschaktion beschert dem | |
Internetkonzern Google nun in Deutschland die größte Vertrauenskrise seiner | |
jungen Geschichte. Ein Anwalt aus Nordrhein-Westfalen hat sogar | |
Strafanzeige gestellt. Und die Hamburger Staatsanwaltschaft ermittelt. | |
Unverschlüsselte Daten | |
Es geht um sogenannte Nutzdaten. Sie fallen an, wenn Menschen über | |
drahtlose Funknetze, WLAN genannt, E-Mails verschicken oder Webseiten | |
abrufen. Viele Menschen nutzen sie, um kabellos mit ihren Computern ins | |
Internet zu gehen. Man kann die Datenströme, die dabei übertragen werden, | |
durch Verschlüsselungstechnik vor Mitlesern schützen. Doch das tun nicht | |
alle. | |
Am letzten Freitag hatte Googles Entwicklungschef Alan Eustache erklärt, | |
dass man etwas Überraschendes bemerkt habe. Man sei bei der Erfassung von | |
Informationen aus drahtlosen Funknetzen im Zuge von Street View über das | |
Ziel hinausgeschossen ist. Das Unternehmen hatte im April verlautbart, bei | |
den Fahrten für das umstrittene Vorhaben würden nicht nur alle Häuser und | |
Straßenzüge fotografiert, sondern auch WLAN-Namen und Netzwerkadressen | |
gespeichert. Nun gab Eustache zu, dass Street-View-Fahrzeuge alles | |
speicherten, was in dem Moment ihres Vorbeifahrens über unverschlüsselte | |
WLANs übertragen wurde. | |
Der Grund für die Panne sei ein Fehler in der Software gewesen, die | |
WLAN-Informationen einsammelt. 2006 hätte ein Google-Programmierer eine | |
experimentelle Software geschrieben, die aus WLANs alle erdenklichen Sorten | |
von Daten einsammelt und nicht nur einige wenige. Ein Jahr später fand sich | |
ein Teil dieser Software in dem Code wieder, der bei Street View zum | |
Einsatz kam. | |
Schon dass überhaupt WLAN-Namen und Netzwerkadressen im Zuge des | |
umstrittenen Straßenerfassungsprojekts Street View gesammelt wurden, hatte | |
Ende April für Ärger gesorgt. Bundesdatenschützer Peter Schaar sagte, er | |
habe nur durch Zufall davon erfahren, dass Google bei Street View nicht nur | |
flächendeckend alle Häuser auf der Welt fotografiert, sondern auch | |
WLAN-Daten sammelt. | |
Datenschützer und Politiker reagierten verärgert. Schließlich hatte man | |
schon im Sommer 2009 offiziell mit Google über Street View verhandelt. "Die | |
WLAN-Scans wurden dabei von Google nicht angesprochen", kritisiert der | |
Hamburger Datenschutzbeauftragte Johannes Caspar. "Wir dachten nicht, dass | |
es notwendig sei", rechtfertigt Googles Öffentlichkeitsarbeiter Peter | |
Fleischer. Das Scannen der Funknetze sei nur ein Seitenaspekt des Projekts | |
gewesen. | |
Nun hat Eustaches Eingeständnis weiteres Öl in die Flammen gegossen. Caspar | |
spricht von einem "WLAN-Desaster", auch wenn Google aller Voraussicht nach | |
mit den Nutzdaten keine großen Geheimnisse erbeutet hat. Weil jeder Scan | |
nun ein Sekundenbruchteil dauert, landeten Datenfragmente – Bruchstücke von | |
E-Mails oder Webseiten – auf den Festplatten von Google. | |
"Aber auch wenn Google nicht meine Mails lesen oder mein Webseitenbesuche | |
nachvollziehen kann, ist es gruselig, dass jemand auf diese Weise in WLANs | |
reinhorcht", sagt der IT-Fachanwalt Adrian Schneider aus Münster. Der | |
wirkliche Schaden ist also nicht auf der technischen, sondern auf der | |
Vertrauensebene entstanden. | |
Ist Google glaubwürdig? | |
Peter Schaar etwa fragt sich zu Recht mit Blick auf Google, "wie | |
glaubwürdig die Erklärungen des Unternehmens sind". Auch Spekulationen | |
machen die Runde: War die Sammlung der Nutzdaten wirklich ein Fehler – oder | |
Absicht? "Dass Google nun so ein Fehler bei der Datenerfassung passiert, | |
ist eine Steilvorlage für reaktionäre Verschwörungstheoretiker", sagt der | |
Berliner Blogger und Social-Media-Experte Jens Best. "Dabei zeigt es, dass | |
man eine gewisse Philosophie der Offenheit hat, wenn man in so einer | |
Situation so einen Fehler zugeben kann. Ein x-beliebiger deutscher Konzern | |
hätte dafür gesorgt, dass die Festplatten klammheimlich verschwinden." | |
Auch für die These, dass Google in diesem Fall einfach einen Bock | |
geschossen hat, spricht einiges. Programmierer sind nicht unfehlbar. In dem | |
Unternehmen wird im Akkord programmiert. Viele Softwarefehler werden im | |
Zuge der Entwicklungsprojekte entdeckt, aber nicht alle. Ein Schnitzer | |
eines Mitarbeiters im Januar 2009 legte etwa für eine Dreiviertelstunde die | |
gesamte Google-Suche weltweit lahm und sorgte für ein Chaos, das im | |
gesamten Internet spürbar war. | |
Es ist bei der Vielzahl von Softwareprojekten auch keineswegs unüblich, gut | |
funktionierenden Code wiederzuverwenden. Eine solche Komponente wie das | |
Scannerprogramm zu modifizieren, so dass sie nur die gewünschten und nicht | |
alle verfügbaren Daten mitschneidet, ist dabei aber weder bei Google noch | |
anderswo üblich. | |
"Wenn man eine Softwarekomponente schreiben will, die dem Erfassen und | |
Decodieren von WLAN-Daten im Allgemeinen gelten soll, dann wird man erst | |
einmal alle Datenpakete von der Antenne ab mitschneiden und sie hinterher | |
sortieren in die Pakete, die einen interessieren, und die, die nicht weiter | |
spannend sind", erklärt der Berliner Informatiker Kristian Köhntopp in | |
seinem Isotopp-Blog die Logik der Softwareentwickler. Auch dass bei Google | |
bis zu den bohrenden Nachfragen der Datenschützer tatsächlich niemand | |
geguckt hat, was man wirklich erfasst, ist plausibel. | |
Gigantische Datenmengen | |
Die Datenmengen, die Google Tag für Tag erfasst, sind gigantisch: Ein | |
Street-View-Fahrzeug speichert pro Tag zwei bis drei Terabyte an Daten. | |
Dazu kommen unter anderem täglich mehr als 90.000 Stunden Videomaterial, | |
das Netznutzer bei YouTube einstellen, und weltweit etwa drei Milliarden | |
Suchanfragen pro Tag. Alles, was Google erfasst, wird wie in einem | |
Physiklabor aus Prinzip aufbewahrt. | |
"Man nimmt erst mal mit, was man kriegt, und guckt, was man dann damit | |
anfangen kann", sagt Caspar. Die Daten sind Rohmaterial für interne Tests, | |
etwa um zu lernen, wie man automatisch Texte aus einer Sprache in eine | |
andere übersetzt oder Spam aus E-Mail-Postfächern filtert. | |
Dass Menschen die Rohdaten selbst unter die Lupe nehmen oder per Hand | |
irgendwo eingreifen, ist bei Google dagegen nicht vorgesehen. Niemand | |
schaute die Daten an, weil niemand auf die Idee kam, dass hier eine | |
Zeitbombe ticken könnte. Das ist keine Überraschung, denn diejenigen, die | |
solche Risiken erkennen können, haben bei Google wenig zu sagen und sind | |
nur punktuell in die Entwicklungsabläufe eingebunden. Google investiert | |
zwar viel in seine Programmierer. Die Presse- und die Rechtsabteilung | |
dagegen wurden lange als reine Kostenstellen betrachtet und knappgehalten. | |
Abteilungen für die Abschätzung von Technologierisiken oder Image-Desastern | |
gibt es gar nicht erst. | |
Zeitbombe nicht entschärft | |
Dementsprechend bezieht Google im Moment vor allem dafür Prügel, dass man | |
mit einer kritischen Öffentlichkeit nicht angemessen kommunizieren und | |
tickende Zeitbomben nicht echtzeitig entschärfen kann. | |
Doch auch wenn durch die Scans also vermutlich keine intimen Daten | |
abgezogen wurden, ist für Johannes Caspar die WLAN-Affäre alles andere als | |
abgeschlossen. "Wir sind der Meinung, dass der Sachverhalt erst richtig | |
ausgewertet werden kann, wenn wir alle Fakten auf dem Tisch haben", sagt | |
er. Doch das kann dauern. Die Festplatte, auf denen viele Nutzdaten | |
schlummern, könne wegen einer technischen Schutzvorrichtung nicht | |
ausgelesen werden, teilte Google dem Datenschützer mit. | |
Lars Reppesgaard ist Autor des Buches "Das Google-Imperium". | |
20 May 2010 | |
## AUTOREN | |
Lars Reppesgaard | |
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