# taz.de -- Banda Aceh nach dem Tsunami: Die Scharia am Strand | |
> Den Tsunami nahmen viele Acehnesen als "Prüfung Gottes" wahr und setzten | |
> ihre Hoffnung auf die Scharia . Während korrupte Beamte ungeschoren | |
> bleiben, verfolgt sie Frauen. | |
Bild: Kinder beim Gebet für die Tsunami-Opfer, 2008 in Banda Aceh. | |
BANDA ACEH taz | Die Sonne senkt sich hinter die Hügel am Ende der Bucht | |
und taucht den Himmel in goldenes Licht. Am Strand von Ulee Lheue, am Rand | |
von Acehs Provinzhauptstadt Banda Aceh, herrscht, wie jeden Samstag, | |
Hochbetrieb. Nichts erinnert auf den ersten Blick an den Tsunami, der am | |
26. Dezember 2004 aufs Land prallte und in Aceh 170.000 Todesopfer | |
forderte. | |
Von kleinen Grillständen entlang der neu errichteten Strandpromenade steigt | |
Rauch auf, Familien verzehren geröstete Maiskolben. Kinder plantschen im | |
Wasser, Angler stehen auf einer aus großen Steinen errichteten Mauer und | |
warten geduldig auf einen Fang. Daneben haben sich junge Pärchen ein | |
Plätzchen gesucht und genießen den Blick übers Meer zur untergehenden Sonne | |
hin. | |
Der 23-jährige Filin und die 24-jährige Zubaidazah sitzen im Abendlicht | |
beieinander. "Für mich ist es immer noch so, als ob es gestern war", sagt | |
Filin, der den Tsunami knapp überlebte, durch die Katastrophe Vater und | |
Mutter verlor. "Aber wir sind froh, dass jetzt Frieden herrscht in Aceh", | |
fügt der sportliche junge Bankangestellte in schwarzem T-Shirt, Jeans und | |
Sandalen hinzu. | |
Der im Sommer 2005 vertraglich besiegelte Frieden, den die separatistische | |
Bewegung Freies Aceh nach dreißig Jahren Bürgerkrieg mit der indonesischen | |
Regierung schloss, dieser Frieden ist ein Ergebnis der Tsunami-Katastrophe. | |
"Früher durften wir abends nicht hier draußen am Meer sitzen", sagt Filins | |
Freundin und Kollegin Zubaidazah, eine junge Frau, die über schwarzen | |
Leggins eine lange, leuchtend blaue Bluse und ein gleichfarbiges Kopftuch | |
trägt, und erinnert an die vom Militär überwachten Sperrstunden. Doch | |
obwohl inzwischen Frieden herrscht, bricht das Paar auf, sobald die | |
Dämmerung einsetzt. Denn in Aceh kontrolliert inzwischen die | |
Scharia-Polizei, ob die Muslime der Provinz sich "anständig" verhalten. | |
Filin und Zubaidazah finden das in Ordnung. Unverheiratete Paare, die sich | |
im Dunkeln am Strand herumdrückten, hätten am Ende doch nur "verbotene | |
Sachen" im Sinn. | |
Als im Januar bekannt wurde, dass mehrere Scharia-Polizisten auf ihrem | |
Revier eine Studentin vergewaltigt hatten, waren viele Acehnesen schockiert | |
und stellten fortan die moralische Legitimation der Religionshüter in | |
Frage. Filin und Zubaidazah hingegen sind überzeugt, dass die Täter auf gar | |
keinen Fall Acehnesen gewesen sein können. "Die Regeln der Scharia sind | |
trotzdem richtig", sagen sie und verlassen im Halbdunkel den Strand. | |
Die Regeln der Scharia. Sie gelten seit 2001. Einst wurden sie der Provinz | |
von der Zentralregierung "zugestanden", jedoch ohne dass sich zuvor die | |
Mehrheit der Acehnesen dafür ausgesprochen hätte. Jakarta glaubte jedoch, | |
so die Unabhängigkeitsbestrebungen im Zaum zu halten. Nach dem | |
Friedensvertrag von 2005 bekam Aceh ein neues Autonomiegesetz, welches an | |
der Scharia jedoch nicht rüttelte. | |
Aceh, der Provinz an der Nordspitze der Insel Sumatra, gaben arabische | |
Händler einst den Namen "Veranda von Mekka". Hier setzte die Islamisierung | |
Indonesiens am frühesten ein. Der Islam ist bis heute ein starker | |
Bestandteil der acehnesischen Identität. Während in Indonesien im | |
Landesdurchschnitt etwa 86 Prozent Muslime leben, sind es in Aceh 98 | |
Prozent. | |
Viele Acehnesen erhofften sich von der Scharia eine gerechtere und weniger | |
korrupte Gesellschaft. Deswegen gab es zunächst keinen starken Widerstand, | |
als muslimische Kleidervorschriften erlassen wurden, als Glücksspiel, | |
Alkohol und das Zusammensein von unverheirateten Paaren ohne Zeugen | |
verboten wurden. Zumal die Vorschriften zwar da waren, aber nicht allzu | |
streng umgesetzt wurden. | |
Das änderte sich nach dem Tsunami. Die Naturkatastrophe im Dezember 2004 | |
nahmen viele Acehnesen als "Prüfung Gottes" wahr, sie führte zu einer noch | |
stärkeren Hinwendung zur Religion. Dann kamen mit den zahlreichen | |
westlichen Helfern Vertreter eines den meisten Acehnesen reichlich fremden | |
Lebensstils ins Land. Ein Teil der jungen, gut ausgebildeten, eher liberal | |
gesinnten lokalen Elite freundete sich mit diesem Lebensstil an. Die | |
31-jährige Mutia Rosa zum Beispiel, die, wie häufig am Abend, mit ihren | |
Freunden in einem der zahlreichen Cafés von Banda Aceh sitzt. Alle sprechen | |
fließend Englisch, alle waren oder sind für ausländische NGOs aktiv. Gerade | |
weihen sie eine neu angereiste australische Ingenieurin in die Landkarte | |
der Ausgeh-Orte der Provinzhauptstadt ein. Mutia Rosa ist Muslimin. Sie | |
trägt enge Jeans, eine nicht besonders weite Bluse und kein Kopftuch. | |
"Dieser Ruf muss von innen kommen, bis jetzt habe ich ihn noch nicht | |
vernommen", lacht Mutia, die mit einem Engländer liiert ist. | |
Das Zusammentreffen mit einem westlichen, individualistischen und | |
hedonistischen Lebensstil war hingegen etwas, das viele Bewohner der | |
während des Krieges quasi von der Außenwelt abgeriegelten Provinz | |
verunsicherte - was von konservativ-islamischen Kräften gerne | |
instrumentalisiert wurde. | |
Die Hinwendung zu Law and Order à la Scharia wurde immer stärker spürbar. | |
Nur ein halbes Jahr nach dem Tsunami gab es die ersten öffentlichen | |
Auspeitschungen von Glücksspielern. Seitdem sind die Szenen mit vermummtem | |
Vollstrecker und einem der gaffenden Öffentlichkeit preisgegebenen Opfer | |
häufiger zu sehen. Während korrupte Beamte weiterhin unangetastet bleiben | |
und reiche Gesetzesbrecher sich frei kaufen können, treffen die Strafen | |
überwiegend die Armen. | |
Besonders Frauen sind den Kleiderkontrollen der Scharia-Polizei ausgesetzt. | |
Die 42-jährige Nur Asmi steht vor ihrem ehemaligen Haus am Stadtrand von | |
Banda Aceh, etwa einen Kilometer vom Meer entfernt. Ihr Mann und ihre | |
Kinder starben hier, als der Tsunami kam. Seitdem ist die Witwe auf sich | |
allein gestellt. Seit über 20 Jahren arbeitet Nur Asmi als | |
Krankenschwester. Sie kann sich noch an Zeiten erinnern, in denen sie in | |
einem knielangen Rock ihrer Arbeit nachging. Heute trägt sie ein Kopftuch, | |
lange Hosen und eine lange Bluse darüber. "Wenn demnächst nur noch Röcke | |
erlaubt sind, wie soll ich dann noch mit dem Moped zur Arbeit fahren?", | |
fragt Nur Asmi. | |
Was demnächst erlaubt sein wird und was nicht, ist in Aceh keine sichere | |
Sache. Lokale Regierungen haben eigene Regeln erlassen. So gilt seit Januar | |
im Distrikt Westaceh ein strikter muslimischer Dresscode, der jegliche | |
Kleidung verbietet, die weibliche Konturen sichtbar macht. Die acehnesische | |
Frauenrechtlerin Ephie Calan bringen solche Nachrichten in Rage. "In | |
Meulaboh gibt es immer noch Tsunamiopfer, die kein Haus haben! Warum hat | |
die Regierung nichts Besseres zu tun, als über Kleidervorschriften | |
nachzudenken?", fragt sie. | |
Im Rahmen der Autonomieregelung werden in Aceh derzeit zahlreiche Gesetze | |
"lokalisiert", darunter auch das Arbeitsrecht. Im jüngsten Entwurf steht, | |
dass Frauen nur mit Genehmigung ihres Ehemannes arbeiten dürfen. Und dass | |
sie nach 22 Uhr nicht mehr arbeiten sollen. Verteidiger des Entwurfes | |
sagen, er entspreche der acehnesischen Kultur. Frauen seien nun mal zuerst | |
für die Familie da. | |
Ephie Calan beklagt hingegen, dass Aceh hinter nationale und internationale | |
Menschenrechtsnormen zurückfalle. "Der Spielraum für | |
FrauenrechtsaktivistInnen ist kleiner geworden", sagt Ephie, die - um Ärger | |
mit der Scharia-Polizei zu vermeiden - inzwischen auch lieber ein Kopftuch | |
aufsetzt, wenn sie auf die Straße geht. Frauen stünden weit unter den | |
Männern, sie seien nicht an Entscheidungen über Investitionen beteiligt, | |
sagt Ephie und fügt hinzu: "Männer denken zuerst an Moscheen, Frauen an | |
Gesundheitsstationen." Mit fatalen Folgen: 40 von 1.000 Kindern erleben in | |
Aceh ihren ersten Geburtstag nicht. 238 von 100.000 Müttern sterben bei der | |
Niederkunft. Mit beiden Werten steht die Provinz - trotz Milliarden | |
internationaler Hilfen und trotz der durch das Atonomiestatut garantierten | |
eigenen Einnahmen aus seinen Erdöl- und Gasvorkommen schlechter da als der | |
nationale Durchschnitt. | |
Ephies Organisation Flower Aceh versucht, mit Hilfe von | |
Kleinkreditprogrammen in Dörfern Frauen und Männer an einen Tisch zu | |
bekommen: "Wir nennen das dann natürlich nicht Gender-Training", sagt Ephie | |
augenzwinkernd mit Verweis auf die vielen wohlklingenden Programme | |
internationaler NGOs. "Viele ausländische Hilfsorganisationen haben die | |
Frauen ein weiteres Mal zu Opfern gemacht", sagt Shadia Marhaban, ehemals | |
Unterstützerin der Rebellenbewegung GAM und Gründerin des Frauennetzwerkes | |
Lina. "Schauen Sie sich doch mal all die Poster und Broschüren an, da sind | |
kaum Akteurinnen, da sind nur Opfer zu sehen", so Shadia. Zu wenig der | |
internationalen Hilfe und Beratung sei in die politische Stärkung von | |
Frauen geflossen. Gleichzeitig sei die lokale Frauenbewegung zersplittert | |
und stehe ständig unter dem Druck, als "unislamisch" gebrandmarkt zu | |
werden. | |
Ohnehin ist Shadia überzeugt, dass den Frauen in Aceh keine Gerechtigkeit | |
widerfährt, so lange die Vergangenheit nicht aufgearbeitet ist. "Wir | |
brauchen keine Gender-Kommission, wir brauchen eine Wahrheits- und | |
Versöhnungskommission", sagt sie mit Blick auf die während des Krieges | |
begangenen Gräueltaten durch Militär und Rebellen. Eine solche Kommission | |
einzusetzen, stand eigentlich im Friedensvertrag von Aceh. Bis heute gibt | |
es sie aber nur auf dem Papier. "Aceh hat zwar viele neue Häuser bekommen", | |
sagt Shadia, "aber kein neues Herz, weil die alten Wunden nie geheilt | |
wurden." | |
26 May 2010 | |
## AUTOREN | |
Anett Keller | |
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