# taz.de -- Doku über Polizeiarchiv: Kennziffer 300 heißt: erschossen | |
> Das Polizeiarchiv Guatemalas umfasst 80 Millionen Dokumente aus 100 | |
> Jahren - auch aus dem Bürgerkrieg von 1960 bis 1996. "La isla", der | |
> Dokumentarfilm über das Archiv, ist jetzt auch in Deutschland zu sehen. | |
Bild: Erst 2005 wurde das Archiv in Guatemala-Stadt entdeckt, 12 Millionen Akte… | |
GUATEMALA-STADT taz | Dokumentarfilme, die ein schwieriges Thema behandeln | |
und ruhig in sich wiederholenden Einstellungen dahinfließen, sind | |
allenfalls Stoff für die dritten öffentlich-rechtlichen Programme. Kurz vor | |
Mitternacht, wenn Einschaltquoten keine Rolle mehr spielen und ohnehin kaum | |
mehr jemand vor der Glotze sitzt. In Guatemala sorgt so ein Dokumentarfilm | |
des deutschen Regisseurs Uli Stelzner für Aufregung. Für drei Vorführungen | |
im rund 2.000 Menschen fassenden Nationaltheater waren die Karten schon | |
Tage zuvor ausverkauft. Vor der Premiere Ende April gab es eine | |
Bombendrohung. Hunde der Sprengstoff-Einheit der Polizei schnüffelten durch | |
die Gänge und Keller des wuchtigen Betonklotzes in einem Park am Rand des | |
Zentrums von Guatemala-Stadt. Sie fanden nichts. Die Drohung war wohl ein | |
Versuch, die Guatemalteken vom Besuch der Premiere abzuhalten. Trotzdem war | |
das Theater ein paar Stunden später brechend voll. Jetzt läuft der Film in | |
Deutschland an. | |
Der Dokumentarstreifen heißt "La isla" (Die Insel) und im Untertitel | |
"Archiv einer Tragödie". Er handelt vom Archiv der Nationalpolizei | |
Guatemalas, das um die 80 Millionen Dokumente aus über 100 Jahren umfasst, | |
darunter die gesamte Zeit des Bürgerkriegs (1960 bis 1996). Nach dem | |
Friedensvertrag zwischen der rechten Regierung und der linken Guerilla der | |
URNG (Nationalrevolutionäre Einheit Guatemalas), als eine internationale | |
Wahrheitskommission unter der Leitung des deutschen Völkerrechtlers | |
Christian Tomuschat die Verbrechen des Kriegs dokumentierte, leugnete der | |
damalige Präsident Álvaro Arzú die Existenz der Datensammlung. Sie wurde | |
erst 2005 eher zufällig entdeckt: in einem tristen Betongebäude in einem | |
Außenbezirk der Hauptstadt, in dessen Straßen sich Handwerksbetriebe und | |
heruntergekommene Wohnhäuser aneinanderreihen. Gleich neben dem Gebäude ist | |
ein Schrottplatz, dahinter hat die Sprengstoffeinheit der Polizei mit ihren | |
Schnüffelhunden ihr Quartier. | |
Der Komplex war ursprünglich als Krankenhaus geplant, wurde aber nie als | |
solches eingerichtet, sondern vorher der Polizei übergeben. Die stapelte | |
darin Papiere bis unters Dach. Und weil Schreie nicht durch mehrere Meter | |
dicke Papierstapel dringen, war in einem Raum in der Mitte des Gebäudes ein | |
geheimes Folterzentrum eingerichtet worden. Das war bekannt unter dem Namen | |
"La isla", doch niemand wusste genau, wo diese Insel war. Gefangene wurden | |
mit verbundenen Augen dorthin gebracht. Kaum einer hat das Gebäude wieder | |
lebendig verlassen. | |
Nach dem Bürgerkrieg wurde die Nationalpolizei aufgelöst, das Archiv sich | |
selbst überlassen. Als es von einem Mitarbeiter des staatlichen | |
Menschenrechtsbeauftragten entdeckt wurde, war das Dach längst undicht. | |
Wasser war eingedrungen, Fledermäuse, Ratten, Kakerlaken und anderes | |
Ungeziefer hatten sich durch die ungeordneten Papierbündel gefressen. Es | |
ist eine diffizile Arbeit, die Akten zu säubern, zu sichten und zu ordnen. | |
Nicht nur unter handwerklichen Gesichtspunkten. Die Angestellten im Archiv | |
sind täglich mit dem Grauen der Vergangenheit konfrontiert. Nachdem die | |
Papiere grob geordnet waren, konzentriert sich die Aufarbeitung zunächst | |
auf Dokumente von 1975 bis 1985, die blutigsten Jahre der Repression. | |
Inzwischen sind mehr als 12 Millionen Akten gesäubert, gesichtet und | |
geordnet. Rund die Hälfte davon ist bereits digitalisiert und auf zwei | |
Servern in Guatemala gespeichert. Ein dritter Server mit Sicherheitskopien | |
steht im Schweizer Bundesarchiv in Bern. Anschläge könne man niemals | |
ausschließen, sagt Gustavo Meoño, der Leiter des Archivs. "Aber wenn es | |
sinnlos wird, die Originale zu zerstören, nimmt die Gefahr ab." Das Gebäude | |
wird innen und außen von Kameras überwacht. | |
Über fünfzig Verbrechen wurden mit Hilfe von in den Dokumenten gefundenen | |
Beweisen inzwischen aufgeklärt. Zum ersten Mal in der Geschichte Guatemalas | |
wurden ehemalige Militärs verhaftet, die an der Entführung und Ermordung | |
von Oppositionspolitikern beteiligt waren. Seit einem Jahr ist das Archiv | |
für die Öffentlichkeit zugänglich. Bürgerkriegsopfer und ihre Angehörigen, | |
aber auch Wissenschaftler, Studenten und Journalisten können sich in einem | |
Computerraum unter Anleitung durch die Akten wühlen. | |
Psychologische Betreuung | |
Stelzner lässt die Geschichte des Archivs von zwei jungen Männern erzählen, | |
die Akten sichten und scannen. Die Väter der beiden wurden von | |
Sicherheitskräften ermordet. Die Mutter des einen wurde verhaftet, als sie | |
mit dem jetzigen Archivangestellten schwanger ging. Die beiden jungen | |
Männer haben in den Akten Unterlagen gefunden, die das Schicksal ihrer | |
Eltern in nüchterner Bürokratenkürzeln dokumentieren. Die Zahl 300 am Ende | |
eines kurzen Akteneintrags bedeutet: Der Betreffende wurde erschossen. Die | |
beiden Protagonisten des Films werden - wie alle Mitarbeiter im Archiv - | |
psychologisch betreut. | |
Ein zweiter roter Faden des Films erzählt die Suche eines Geschwisterpaars | |
nach dem Schicksal von 14 Familienangehörigen, die von Polizei, Armee oder | |
paramilitärischen Einheiten ermordet wurden, vom Kindergartenkind bis zur | |
Großmutter. Dazwischengeschnitten sind historische Aufnahmen und Berichte | |
der Botschaft der USA. In einer dieser alten Fernsehaufnahmen taucht | |
General Otto Pérez Molina auf und erklärt neue Waffen, die von Israel | |
geliefert wurden. Die Einheit des Generals war in den Achtzigerjahren für | |
mehrere Massaker an der Zivilbevölkerung verantwortlich. Heute ist Pérez | |
Molina Oppositionsführer. Bei der Wahl im kommenden Jahr will er Präsident | |
werden. Vor drei Jahren ist er dem heutigen Präsidenten Álvaro Colom nur | |
knapp unterlegen. | |
"Mir ist erst jetzt richtig klar geworden, welche Bedeutung der Film in | |
Guatemala hat", sagt Stelzner. Vier Jahre hat er mit einem | |
guatemaltekischen Team an "La isla" gearbeitet. Nie gab es Schwierigkeiten. | |
Bis eineinhalb Wochen vor der Premiere. Die Partei von Pérez Molina | |
intervenierte bei der deutschen Botschaft. Der Film sei Teil einer | |
Schmutzkampagne gegen den Oppositionskandidaten. Der Botschafter riet, den | |
Film einfach als Kino-Ereignis zu nehmen und Politik außen vor zu lassen. | |
Doch in Guatemala geht das nicht. Wer die Wahrheit über die Vergangenheit | |
sucht und öffentlich macht, lebt gefährlich. | |
Mit Betonklotz erschlagen | |
Die erste Dokumentation des Grauens veröffentlichte Bischof Juan Gerardi im | |
April 1998: eine mehrere tausend Seiten dicke Dokumentation von Massakern, | |
die vom Menschenrechtsbüro des Erzbistums von Guatemala-Stadt auf der Basis | |
von Zeugenaussagen rekonstruiert wurden. Wenige Tage nach der | |
Veröffentlichung des Berichts wurde Gerardi in der Garage seines | |
Pfarrhauses mit einem Betonklotz von Militärs erschlagen. | |
Ein knappes Jahr später übergab Tomuschat den Bericht der | |
Wahrheitskommission. Danach sind im Bürgerkrieg über 200.000 Menschen | |
ermordet worden. Für über 90 Prozent dieser Verbrechen sind staatliche | |
Sicherheitskräfte verantwortlich. 80 Prozent der Opfer gehörten zu einem | |
der gut zwanzig Maya-Völker Guatemalas. Tomuschat sprach von einem | |
Völkermord. Am Tag nach dem feierlichen Akt der Präsentation des Berichts - | |
ebenfalls im Nationaltheater - verließ er schnell das Land. Stelzner | |
schlief in der Nacht nach der Premiere nicht in seiner üblichen Unterkunft | |
in Guatemala. | |
Bei der Übergabe des Berichts der Wahrheitskommission füllten außer | |
Mitgliedern der Regierung und Vertretern der Botschaften fast | |
ausschließlich Menschenrechtsaktivisten und Angehörige der Opfer die Ränge | |
des Theaters. Elf Jahre später, bei der Premiere von "La isla", war das | |
Publikum anders. Keine Armen vom Land, wo die Armee gewütet hatte, und nur | |
ganz wenige Maya. Es kamen mehrheitlich junge Menschen, die den Krieg kaum | |
bewusst erlebt haben können. Städtisch modern gekleidet und mit heller | |
Haut. Keine Angehörigen der Opfer, sondern die Kinder jener | |
Gesellschaftsschicht, deren Privilegien in diesem Krieg verteidigt wurden. | |
Sie wollen heute wissen, was damals passiert ist und wer dafür | |
verantwortlich ist. | |
Und weil Schreie nicht durch dicke Papierstapel dringen, wurde in der Mitte | |
ein Folterzentrum eingerichtet | |
28 May 2010 | |
## AUTOREN | |
Toni Keppeler | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |