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# taz.de -- Musikkritik auf Facebook & Co: Der letzte Schrei
> In den USA findet Musikkritik heute in Blogs statt. Social-Media-Seiten
> wie Facebook haben Musikzeitschriften den Rang abgelaufen.
Bild: Für Bands ist es mittlerweile wichtiger, auf dem Internetportal Pitchfor…
Auch als US-Musikkritikerin fasziniert mich die taz-Debatte über die
Zukunft der Popkritik. In den USA wäre eine solche Debatte undenkbar. Die
derzeitige Situation von Printmagazinen und Zeitungen ist hier wesentlich
schlimmer als in Deutschland. Musikmagazine sind schon eingegangen.
In den letzten zehn Jahren bin ich regelmäßig in Deutschland gewesen. Mich
hat dort immer beeindruckt, wie dynamisch die Medienlandschaft ist. Mir ist
darüber hinaus aufgefallen, dass Kritiken in deutschen Zeitungen eine
andere Bedeutung zukommt als in den USA. In den USA liegt der Schwerpunkt
auf "journalistischer Objektivität" und Reportagen. Einen
"Feuilleton"-Teil, wie er in Europa existiert, kennt man bei uns nicht.
Selbst in der "Arts"-Sektion einer typischen US-Zeitung spielen Nachrichten
und Reportagen eine größere Rolle als Kritiken und Kommentare.
Beeindruckt hat mich zudem, dass sich in Deutschland Medien viel mit der
Konkurrenz befassen. In den USA ist dafür höchstens in den Blogs Platz. In
Deutschland vollzieht sich ein ähnlicher Wandel der Presselandschaft wie in
den USA, nur tut er das in Zeitlupe. Da überrascht es kaum, dass das
Musikmagazin Spex inzwischen statt klassischer Plattenrezensionen
dialogische Rezensionen im Stil von Internetforumsdiskussionen druckt. In
zehn Jahren wird es Spex vielleicht gar nicht mehr geben.
In den USA hat sich die Musikkritik mittlerweile fast vollständig ins
Internet verlagert. Für Bands ist es wichtiger, auf dem Internetportal
Pitchfork positiv erwähnt zu werden, als im Spin-Magazin. Blogs und
Webseiten erfreuen sich größter Beliebtheit. Musiker können berühmt werden,
ohne jemals auf der Titelseite eines Magazins gewesen zu sein. Hype wird
über Facebook, Twitter und andere Social Media generiert. Sie haben den
Musikzeitschriften den Rang abgelaufen, und diese verschwinden vom
Zeitschriftenmarkt.
Damit will ich nicht sagen, dass Pitchfork die Zukunft der Musikkritik ist.
Aber es überrascht mich nicht, dass Musik-Blogs so beliebt geworden sind.
Hörer wollen ein dort erwähntes Album sofort aus dem Internet
herunterladen. Ihnen liegt etwas an einer eigenen Stimme, einer
Persönlichkeit: Wenn sie Artikel lesen, wollen sie auch wissen, welcher
Autor dahintersteckt. Viele Musikfans, die ich kenne, vertrauen auf ihre
Freunde. Wenn sie etwas über ein neues Album erfahren wollen, gehen sie auf
Facebook und sehen nach, welche Alben ihre Freunde gerade aus dem Internet
herunterladen. Warum vertrauen sie eher ihren Freunden als den
Musikkritikern?
Der Grundgedanke von Facebook ist, dass Menschen mit anderen in Beziehung
treten wollen. Darum geht es auch bei einer Musikkritik. Eine "gute Kritik"
schafft eine tiefe Beziehung zum Autor, selbst wenn man diesen Menschen
noch nie im Leben gesehen hat.
Im ersten taz-Beitrag zur Debatte um die "Zukunft der Musikkritik" hat der
Autor Wolfgang Frömberg beschrieben, welchen Einfluss Rezensionen von
Diedrich Diederichsen auf sein Leben gehabt haben. Diederichsens Schreibe
habe ihn dazu gebracht, selber Autor zu werden. Der Grund, warum ich
Musikkritikerin geworden bin, war eine Rezension eines Pixies-Albums, die
ich mit 20 gelesen habe; sie hat mich dazu gebracht, mit dem Schreiben
anzufangen. Die Rezension stammte von Mark Sinker, Anfang der 1990er Jahre
Chefredakteur beim britischen Magazin The Wire. Auch der britische
Musikkritiker Simon Reynolds hat mich schon früh inspiriert und ist ein
guter Freund geworden.
Allgemein schwindet der Platz, der Musikkritiken in den Tageszeitungen
eingeräumt wird, und somit schwinden auch Möglichkeiten, Beziehungen zu
Musikkritikern aufzubauen. Deshalb lasse ich mich inzwischen von Bloggern
inspirieren.
Würde Lester Bangs noch leben, er würde sich heute mit Sicherheit in einem
Blog ausbreiten. Ich kann mir kein Printmagazin vorstellen, dass seine
Artikel drucken würde. Man denke nur einmal an die großartigen
Printmagazine der Vergangenheit! Wie wichtig der NME in den 70ern und 80ern
war, bevor er zu dem schlechten Scherz verkam, der er heute ist. An den
Rolling Stone in den frühen 70er Jahren, als Hunter S. Thompson und Tom
Wolfe dafür schrieben. An Spin in den 90ern.
Keine Experimente
In ihrer Blütezeit druckten diese Magazine Kritiken aus einer
meinungsstarken Perspektive und positionierten sich eindeutig. Sie waren
beweglich und hatten keine Angst, unabhängige Stimmen zu sein. Das geht
heute nicht mehr, denn Musikmagazine stehen im Bann von Werbeeinnahmen. Sie
haben sich zu riesigen, hierarchisch organisierten Unternehmen entwickelt,
die nicht mehr in der Lage sind, Experimente zuzulassen und neue,
aufregende Textformen auszuprobieren.
Um Geld einzusparen, versuchen viele Verlagshäuser, dasselbe Blatt mit der
Hälfte der Belegschaft zu gestalten. Sie behalten Mitarbeiter aus
Management und Marketing und entlassen Redakteure und Grafiker. Sie zahlen
den Autoren niedrige Honorare und glauben, dass die Leser davon nichts
merken. Aber am Ende haben die Magazine ihre Glaubwürdigkeit verspielt.
Fragwürdig finde ich bei vielen englischsprachigen Musikmagazinen den
Versuch, Stilmittel des Internets zu kopieren. Sie füllen ihre Seiten mit
Partyfotos, Promitratsch und Charts, anstatt sich auf ihre Kernkompetenzen
zu konzentrieren: gut recherchierte, ausführliche Besprechungen, Kommentare
und Meinungen. Weit verbreitet ist auch die Auffassung, dass
Musikinteressierte keine langen Artikel mehr lesen wollen. Aber wenn man
Illustrierte betrachtet, die in den USA noch eine kulturelle Rolle spielen,
wie zum Beispiel der New Yorker, liegen die Dinge genau umgekehrt. Wenn ich
einen langen Musikartikel für meinen Blog schreibe, kann ich mir sicher
sein, dass ihn ein paar tausend Leute lesen werden. Bemüht man sich, gute
Arbeit abzuliefern, erkennen die Leute diese Mühe auch an.
Im Großen und Ganzen geht es Mode- und Kunstmagazinen besser als
Musikmagazinen. Natürlich gibt es auch jede Menge beliebter Mode- und
Kunst-Blogs. Aber für Kunst- und Modemagazine ist die Papierform noch immer
die geeignetste Form der Publikation. Modeaufnahmen und Reproduktionen von
Gemälden sehen in großformatigen Hochglanzmagazinen einfach besser aus als
auf den Pixelbildern der Websites, obwohl sich das in Zukunft mit der
Weiterentwicklung der Bildschirmtechnologie wahrscheinlich ändern wird.
Hochglanz bleibt
Magazine wie Vogue verfügen immer noch über hohe Werbeeinnahmen, weil sie
auf Luxusartikel setzen, die sich nicht in Dateien umwandeln lassen. Die
Leute werden immer Ratschläge in Modefragen suchen, sie werden sich immer
etwas Neues zum Anziehen kaufen. Kleidung kann man nicht umsonst aus dem
Internet herunterladen wie eine Musik-MP3 - zumindest noch nicht. Auch
Kunstmagazine sprechen über hochwertige Güter und sind besser gegen ihren
Untergang gefeit als Musikmagazine. Nimmt ein angesehenes Kunstmagazin wie
Artforum einen bestimmten Künstler auf den Titel, will das noch was heißen.
Mit ziemlicher Sicherheit werden die Arbeiten dieses Künstlers im Wert
steigen.
In den letzten zehn Jahren habe ich meinen Lebensunterhalt mit
Musikkritiken verdient, aber es war ein fortwährender Kampf, besonders weil
immer mehr Artikel nur noch online veröffentlicht werden. Und Websites wie
Pitchfork zahlen wenig. Es ist unmöglich, so in einer Stadt wie New York zu
überleben und als Musikkritikerin zu arbeiten. Ich weiß nicht, wie ich das
in den letzten zehn Jahren geschafft habe. Deutsche Magazine zahlen auch
nicht besonders viel, aber in einer Stadt wie Berlin sind die
Lebenshaltungskosten wesentlich niedriger. Diejenigen unter uns
Musikkritikern, die sich auf anderen Gebieten auskennen, wenden sich neuen
Themen zu. Die schreiben jetzt beispielsweise über Wissenschaft und
Technik, über Kunst oder Mode.
Einige der begabtesten Musikkritiker, die ich kenne, haben eine andere
Karriere eingeschlagen, sind Anwalt oder Manager geworden. Und ich schreibe
für Kunstmagazine über Musik, weil es keine Musikmagazine mehr gibt, für
die ich schreiben könnte. Das stimmt mich sehr traurig. Es muss doch einen
Weg geben, Musikkritik weiter lebensfähig zu machen!
Aus dem Englischen von Harriet Fricke
15 Jun 2010
## AUTOREN
Geeta Dayal
## TAGS
Arcade Fire
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