# taz.de -- Jugend debattiert: Der Sport der gehobenen Mittelklasse | |
> Rhetorik braucht man immer, finden die 90.000 Schüler, die sich bei | |
> "Jugend debattiert" jedes Jahr bis zum Finale durchdiskutieren. Am Ende | |
> stehen Gymnasiasten auf dem Treppchen. | |
Bild: Die Schüler Christian Blex und Ines Müller debattieren im Landtag in Ma… | |
BERLIN taz | Diskutieren - das bedeutet oft Worthülsen, faule Kompromisse | |
und Besserwisserei. Für manche aber ist Disputieren ein Hobby. Für Lara zum | |
Beispiel: Die 18-jährige Schülerin ist Mitglied des Jugendparlaments von | |
Delmenhorst in Niedersachsen. Diskutieren gehört für sie zum Leben, denn | |
"Rhetorik kann man überall gebrauchen." Heute ist sie beim Vorfinale des | |
bundesweiten "Jugend debattiert"-Wettbewerbs dabei. Für Lara steht dabei | |
weniger der Wettstreit als der Meinungsaustausch im Vordergrund. "Am | |
liebsten sind mir dabei ethische Themen", sagt sie. | |
Am Wochenende fand das diesjährige Finale des bundesweiten "Jugend | |
debattiert"-Wettbewerbs in Berlin statt. 64 Oberschüler aller Bundesländer | |
trafen sich, um in zwei Altersklassen die besten Redner zu ermitteln. Der | |
Hauptpreis war ein siebentägiges Rhetorikseminar. Zuvor mussten sich die | |
Schüler durch Schul-, Regional- und Länderwettbewerbe diskutieren - und | |
dabei 90.000 Mitbewerber ausstechen. Den ersten Platz machten die | |
Gymnasiasten unter sich aus - Jonathan Krude aus Würzburg und Alexander | |
Osterkorn aus Niebüll. | |
Die Schüler diskutierten über gesellschaftliche Themen wie | |
Videoüberwachung, die Legalisierung von Drogen oder über Atomkraft: Zwei | |
Zweierteams, eines pro, das andere kontra, müssen über die Frage | |
debattieren, ob neue Atomkraftwerke gebaut werden sollen oder nicht. Acht | |
Minuten haben die vier Redner insgesamt für einführende Stellungnahmen. | |
Anschließend folgt für zwölf Minuten der freie Schlagabtausch - immer im | |
Wechsel von Pro und Kontra. Jetzt müssen die Redner rhetorisch brillieren, | |
denn es gilt auch unliebsame Meinungen an den Mann zu bringen - zumal diese | |
nicht zwangsläufig die eigenen sind. Sind Atomkraftwerke sicher? Lohnt sich | |
volkswirtschaftlich ein Neubau? Was machen die europäischen Nachbarn? Was | |
tun mit dem Atommüll: Verglasen, aufbereiten, zu den Nachbarn schicken - | |
oder doch lieber gar nicht erst erzeugen? Eine Debattantin will gar den | |
schlechten Ruf der Atomkraft durch stärkere Manipulation der öffentlichen | |
Meinung ausgleichen. Gelacht wird darüber wenig - weder im Publikum noch | |
bei den Rednern. | |
Auch die drei Juroren lachen nicht. Schweigend notieren sie die Stärken und | |
Schwächen der Debattanten, streng sortiert nach vier Kriterien: | |
Sachkenntnis, Ausdrucksvermögen, Gesprächsfähigkeit und Überzeugungskraft. | |
Die Zeitwächterin betätigt unerbittlich das Glöckchen, welches die Redezeit | |
begrenzt - und das Ende der Debatte einläutet. Jeder darf in einer Minute | |
sein Abschlussstatement abgeben, dann zieht sich die Jury zur Beratung | |
zurück. Sie besteht aus zwei Alumni - den Vorjahressiegern - und einem | |
Rhetoriktrainer. Auch Lehrer, Schüler und Eltern können Juroren werden. | |
Innerhalb einer Viertelstunde wird, trotz des hohen Niveaus der Debatte, | |
harsche Kritik geübt, Bestnoten werden nicht vergeben. Schließlich sollen | |
nur die Besten weiter kommen. Anschließend bekommen die Redner eine | |
individuelle Beurteilung, beginnend mit den Stärken, endend mit | |
Verbesserungsvorschlägen. Die meisten erreichen das Finale nicht. | |
Der Wettstreit findet seit 2002 auf Anregung der Hertie-Stiftung unter der | |
Schirmherrschaft des Bundespräsidenten bundesweit statt. Weitere Förderer | |
sind die Robert Bosch Stiftung und die Kultusministerkonferenz. "Wir wollen | |
junge Leute zur Teilnahme an demokratischen Prozessen motivieren und | |
Redekompetenz vermitteln", sind für Projektleiter Ansgar Kemman die Ziele. | |
Ein weiteres Anliegen: "Den Wettbewerb als Gesellschaftsprinzip in den | |
Schulen verankern." An den Schulen werde zu viel reflektiert und zu wenig | |
Wert auf handwerkliches Rüstzeug gelegt. Die Schüler dächten bei Wettbewerb | |
eher ans Verlieren und die Zumutungen als an die Möglichkeit, die eigenen | |
Fähigkeiten zu testen. "Sie sollten das sportlich sehen. Schon die | |
Teilnahme ist wichtig." Langfristig soll "Jugend debattiert" in die | |
Lehrpläne der Länder aufgenommen werden. | |
Die Hertie-Stiftung will nur noch die Wettbewerbe auf Landes- und | |
Bundesebene ausrichten sowie die Lehrer für das Projekt weiterbilden. | |
Offenbar hat Kemman Erfolg: Bill, Zehntklässler aus Berlin und einer der | |
Teilnehmer, sieht in "Jugend debattiert" viele Chancen. Er möchte später | |
gerne in der PR arbeiten. Dafür seien die Rhetorikseminare und -trainings | |
eine gute Grundlage. Er selbst überzeuge andere Menschen gern, gerade wenn | |
es um "Themen mit persönlichen Bezug" gehe. Dem Konkurrenzdenken müsse man | |
sich nicht fügen, denn die Teilnahme an "Jugend debattiert" sei freiwillig. | |
Wettbewerb sei nicht schlecht, "solange es fair zugeht". | |
Ein Lehrer aus Nordrhein-Westfalen findet hingegen, dass es eben nicht fair | |
zugeht. Er bemängelt die Unausgewogenheit des Wettbewerbs: Obwohl alle | |
weiterführenden Schulformen an "Jugend debattiert" teilnehmen können, seien | |
die Gymnasien stark überrepräsentiert. In der Tat zeigen die | |
Teilnahmelisten des Bundeswettbewerbs kaum Real- und gar keine | |
Hauptschüler. Ansgar Kemman bestätigt dies: 60 Prozent der Schüler seien | |
Gymnasiasten, nur 7 Prozent Hauptschüler. Er begründet dies mit der | |
mangelnden Zeit der Haupt- und Realschulen, die bereits nach der zehnten | |
Klasse enden. "In den Lehrplänen ist da wenig Platz, weil man Wichtigeres | |
zu tun hat." Generell seien deren Lehrer Wettbewerben eher abgeneigt, da | |
sie kooperatives Lernen bevorzugten. Tim Wagner, Trainer bei "Jugend | |
debattiert", sieht es gerade andersherum: An Hauptschulen herrsche weniger | |
Dialogorientierung als bei höheren Schulformen. | |
Ein Problem ist die Struktur des Wettbewerbs: Während in der Altersgruppe I | |
(Klassen 8 bis 10) alle Oberschulformen teilnehmen, ist die Altersgruppe II | |
(Klassen 11 bis 13) praktisch den Gymnasiasten vorbehalten. Simon Sachs, | |
Mitglied des Alumnivereins von "Jugend debattiert", will das Problem durch | |
Werbung an Hauptschulen beheben. Schließlich solle jeder debattieren können | |
- egal ob Hauptschule oder Gymnasium. | |
23 Jun 2010 | |
## AUTOREN | |
Johannes Hub | |
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