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# taz.de -- Soziologe über Argentiniens Fußball: "Entweder Großes oder Schre…
> Der Soziologe Pablo Alabarces über kultursoziologische Steilpässe, einen
> erratischen Trainer und die Zweifel darüber, ob Fußball eine Nation
> nachhaltig einen kann.
Bild: Kein Taktiker: Diego Maradona beim WM-Achtelfinale Argentinien gegen Mexi…
taz: Herr Alabarces, mit welchen Gefühlen blickt Argentinien zur WM?
Pablo Alabarces: Die Wochen vor dem Turnier waren wie immer die Zeit eines
ungetrübten Optimismus. Erst wenn der Ball rollt, zerplatzen langsam die
Träume. Argentinien ist schließlich seit 20 Jahren nicht mehr über das
Viertelfinale einer WM hinausgekommen, aber bisher sind die Zeitungen und
die Fans recht enthusiastisch.
Und der Trainer heißt Diego Armando Maradona.
Seine Beteiligung ist eine Garantie dafür, dass etwas Besonderes passiert,
etwas Großes oder Schreckliches. Normal ist diese WM nicht. Dieses Gefühl
spiegelt sich auch in den Produkten der Kulturindustrie wider: Im Fernsehen
läuft zum Beispiel ein Werbespot der Brauerei Quilmes, der Gott als
argentinischen Fußballfan zeigt, der alle Menschen auffordert, für die
Albiceleste zu beten.
Ausgerechnet der Junkie und Steuerhinterzieher Maradona wurde
Nationaltrainer. Darüber waren nicht wenige erstaunt.
Maradona ist kein Taktiker, sondern ein Erratiker, er hat bislang viele
Systeme und mehr als 100 Spieler ausprobiert und sich nur äußerst knapp für
die WM qualifiziert. Aber es war vermutlich unausweichlich, dass er einmal
Trainer würde. Die Ernennung zum Nationaltrainer ist der Versuch, die
unerträgliche Leere zu füllen, die seit seinem Rücktritt in unserer
nationalen Aufstellung klafft.
Sie schreiben über "Fußball und die Erfindung der argentinischen Nation".
Was hat Sport mit Nation-Building zu tun?
Die argentinische Gesellschaft war permanent auf der Suche nach Symbolen
für Argentinität - immer in Anlehnung oder Abgrenzung zu Europa. Deshalb
ist der Gaucho so eine wichtige Figur, der freie Mann, der das Land auf dem
Rücken seines Pferdes durchmisst. In den 1920er und 30er Jahren des 20.
Jahrhunderts kamen Millionen europäischer Einwanderer ins Land, und die
Fußballnationalmannschaft war ein passendes Symbol für diese
Melting-Pot-Gesellschaft. In der Mannschaft, die 1928 bei den Olympischen
Spielen und 1930 bei der Fußball-WM jeweils den zweiten Platz belegte,
spielten Italiener, Kreolen und Spanier. Wichtig war aber auch: Wir mussten
unser eigenes Spiel erfinden.
Was meinen Sie damit?
Fußball war im 19. Jahrhundert ein englisches Exportprodukt. 1891 wurde die
Argentine Association Football League gegründet. Erst Jahre später
entwickelte sich die Idee eines kreolischen Spiels, das taktische Elemente
mit originellen Einzelpraktiken kombiniert. Zentrale Figur ist der "pibe",
der Bursche, der auf dem Bolzplatz groß geworden ist, ein kreativer
Spieler, frei von der einschränkenden Disziplin der Europäer. Dass die
Engländer im Fußball als Todfeinde der Argentinier gelten, liegt nicht nur
an den Falkland-Kriegen oder dem umstrittenen Tor von Maradona im
Halbfinale von 1986, sondern es hat auch psychologische Gründe: England ist
der Vater des Spiels, der Erfinder und Meister. Nur wenn wir England auf
unsere Art und Weise besiegen, entwickeln wir ein eigenes Ich.
Und welche Rolle spielt der Fußball heute?
Eine größere als je zuvor. Er wirkt als Kulturmaschine, die bestimmte Werte
vermittelt. Traditionellerweise wird diese Rolle von den Schulen
eingenommen, von den Gewerkschaften, der Politik oder der Avantgarde. Diese
Institutionen sind in den vergangenen Jahren verkommen und unbedeutend
geworden. Der Fußball funktioniert heute aufgrund seiner medialen
Allgegenwart und seiner Macht, nationale Bedeutungen zu transportieren, auf
ähnlich autoritäre Weise wie die Schule. Der Fußball ist, wie meine
Kollegin Beatriz Sarlo sagt, "der Klebstoff der Nation".
Ziemlich große Aufgabe für einen Sport.
Ja. Klar ist auch: Wenn der Fußball die letzte Säule der Gemeinschaft ist,
dann ist es eine schwache Gemeinschaft. Ich bin sehr skeptisch, ob Fußball
wirklich eine nachhaltige Entwicklung anstoßen kann. Nehmen Sie das
Beispiel der WM 1998 in Frankreich. Nach dem Sieg von Zidane, Laurent Blanc
und Marcel Desailly sprach alle Welt davon, dass im Stade de France ein
demokratisches, pluralistisches und multiethnisches Frankreich geboren
worden sei. Sechs Jahre später brannten die Banlieues, und les Bleus haben
bei dieser WM ein schreckliches Bild abgeliefert. Der Fußball liefert uns
manchmal Mythen, in denen wir uns selbst zu erkennen glauben. Am Ende ist
das alles aber nur Gerede. Entscheidend ist, was eine Gesellschaft abseits
des Fußballplatzes unternimmt.
1 Jan 1970
## AUTOREN
Tobias Moorstedt
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