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# taz.de -- Die Öl-Katastrophe: Lethargie statt Aufstand
> Die Ölpest am Golf von Mexiko wird täglich schlimmer. Proteste in
> Deutschland gibt es kaum. Ganz anders in den Neunzigern, als die
> Ölplattform "Brent Spar" versenkt werden sollte.
Bild: Greenpeace-Aktivisten gegen die Öl-Katastrophe.
Geschlossen wegen Klimawandels" stand auf einem Plakat an der Zapfsäule.
200 bis 300 Aktivisten blockierten die Zufahrten zur Tankstelle. Eine
Sambagruppe trommelte bei Sonnenschein unter blauem Himmel. Kletterer
befestigten am Dach ein Transparent: "Total = Aral = Shell = BP, Bohrlöcher
zumachen!" Eine spontane Aktion am 5. Juni, dem Wochenende der
Klimaproteste in Bonn - und endlich eine sichtbare Reaktion auf die
Ölkatastrophe im Golf von Mexiko. Auch in der virtuellen Welt regt sich
hier und da Protest. So gibt es die üblichen Facebook-Seiten wie "Boycott
BP" mit über 700.000 Fans. Und auf dem Bilderportal Flickr werden
massenhaft verfremdete BP-Logos hochgeladen.
Viel mehr Proteste gibt es in Deutschland angesichts der größten
Umweltkatastrophe der US-Geschichte aber nicht. Für NGOs und
Umweltbewegungen scheint der Fall "Deepwater Horizon" kaum Protestpotenzial
zu haben. "Wir haben keine konkreten Pläne für Aktionen", sagt etwa Tadzio
Müller vom Netzwerk Climate Justice Action. "Geplant ist momentan nichts",
meint Thorben Becker, Energieexperte vom BUND Naturschutz. "Wir sind
vollauf mit anderen Themen beschäftigt, es ist gerade nichts geplant", sagt
Attac-Pressesprecherin Frauke Distelrath. Und Greenpeace-Aktivist Christian
Bussau sagt: "Ich wüsste nicht, welche sinnvollen Protestaktionen es in
diesem Fall geben sollte." Einzige Ausnahme: Kleine Greenpeace-Aktionen vor
den Zentralen von BP, Esso und Shell in Hamburg und Bochum. Allgemein
zeigen sich die NGOs im Umgang mit dem Ölleck im Meeresboden ebenso ratlos
wie die Obama-Administration und die BP-Konzernzentrale.
Dass sogar Christian Bussau die Ideen fehlen, wie die Öffentlichkeit aus
der Lethargie zu reißen wäre, ist aussagekräftig. Schließlich hat der
Greenpeace-Sprecher miterlebt, wie Protestaktionen ein ganzes Land in
Aufruhr bringen können: Bei der legendären Besetzung des schwimmenden
Öltanks "Brent Spar" 1995 war er mit dabei. Rund 100 Tonnen Ölschlamm
wurden damals im Bauch des 140 Meter hohen Kolosses vermutet, die geplante
Versenkung durch Shell im Meer wollte Greenpeace deshalb mit allen Mitteln
verhindern. Über eine Woche verbrachte Bussau auf der Plattform, kettete
sich am Ende an ihr fest, bis sie am 23. Mai geräumt wurde. 100 Tonnen
Ölschlamm - das erscheint heute fast lächerlich: In den Golf von Mexiko
fließt nach der BP-Katastrophe Tag für Tag die 80-fache Menge ins Meer.
Schon seit dem 20. April - und wann das Leck geschlossen werden kann, kann
derzeit niemand beantworten.
Damals, als die "Brent Spar" versenkt werden sollte, genügten diese 100
Tonnen, um die größte Boykottbewegung eines Konzerns in der BRD-Geschichte
auszulösen. Einige Behörden und Verbände tankten ihre Dienstwagen nicht
mehr bei Shell, die Supermarktkette Tengelmann empfahl ihren fast 200.000
Angestellten das Gleiche. Die Junge Union, Kirchenverbände,
Gewerkschaftschefs, Guido Westerwelle, Theo Waigel, Klaus Kinkel, Helmut
Kohl: Alle kritisierten das Vorhaben des Shell-Konzerns oder forderten
gleich seinen Boykott. Zwei Drittel der Bundesbürger waren laut einer
Emnid-Umfrage ebenfalls dazu bereit. An einigen Tankstellen brachen die
Umsätze darauf um bis zu 50 Prozent ein. Manche gingen militant vor: Einem
Shell-Tankstellen-Pächter wurde eine Briefbombe geschickt, weitere
erhielten Bombendrohungen, in Hamburg wurde ein Brandanschlag auf eine
Shell-Station verübt. "Shell to hell" wurde an den Tatort gesprüht.
Christian Bussau hatte sich, als er vor etwas mehr als 15 Jahren in einem
Fischkutter zur "Brent Spar" übersetzte, diese Resonanz zu Hause nicht
vorstellen können. "Ich habe mich tatsächlich gewundert, wie groß der
Protest wurde", sagt er heute. Und vermutet: "Es sind wohl viele Leute auf
den Zug aufgesprungen, um für sich ein grünes Image herauszuholen." Mit
rund einem Dutzend Mitstreitern belegte er damals die verwaisten Kajüten
auf der "Brent Spar". Die trieb zu diesem Zeitpunkt bereits jahrelang
ungenutzt im Meer. "Die ,Brent Spar' war in einem katastrophalen Zustand,
mit Meeresromantik hatte das nichts zu tun", erinnert sich Bussau. Ohne
fließend Wasser, ohne Strom, bei Temperaturen knapp über null, hunderte
Kilometer nordöstlich des schottischen Festlandes. Über die Plattform
jagten nachts tieffliegende Wolken, von den Fackeln der umliegenden
Bohrinseln rot angeleuchtet, im Meer schwammen stinkende Öllachen. Schon
bald kreuzten Boote von Shell auf, die mit Wasserwerfern die Besetzer
attackierten.
Was war vor 15 Jahren anders? "Damals wussten die Menschen, dass sie
konkret etwas verhindern können", erklärt sich Bussau den Erfolg der "Brent
Spar"-Kampagne, "deshalb haben so viele Menschen sofort mitgemacht."
Dadurch wurde die "Brent Spar" zum Symbol: für die Macht des Verbrauchers,
einen Weltkonzern zum Umlenken zu bewegen.
Die heutige Situation, nach dem Untergang der "Deepwater Horizon", sei
komplizierter, sagt Bussau: "Das Problem jetzt auf BP zu reduzieren
verkleinert es. So etwas kann überall passieren, und es betrifft alle
großen Ölkonzerne." Zum Boykott von BP will er deshalb nicht aufrufen. In
einem Greenpeace-Papier heißt es dazu: "Auch wer sein Auto betankt, trägt
seinen Teil der Verantwortung." Die Einschränkung des Verbrauchs verhindere
Ölkatastrophen besser als Boykotte.
Der Bewegungsforscher Roland Roth hatte Mitte der neunziger Jahre die
"Brent Spar"-Kampagne intensiv analysiert. Im Vergleich zu damals vermisst
er heute Diskussionen, Gegenöffentlichkeiten, Proteste. Und kritisiert die
Haltung von Greenpeace: "Eine große internationale Boykottbewegung wäre
eine großartige Sache. Damit würden die Kosten für derartige Unfälle nach
oben getrieben und die Ölindustrie könnte nicht so weitermachen wie
bisher."
Er verwendet jedoch bewusst den Konjunktiv. Einen ähnlich breiten Protest
wie 1995 erwartet er nämlich nicht. Die "Brent Spar"-Kampagne sei eher
geeignet gewesen, Protest anzufachen. So habe sie als "erster Fall eines
breiten Konsumentenboykotts" den "Charme des absolut Neuen" gehabt.
Außerdem seien damals die Nordsee und das Wattenmeer in Gefahr gewesen, im
aktuellen Fall gebe es "keine unmittelbare Betroffenheit" in Deutschland.
Und schließlich wollte die Bewegung 1995 einen Präzedenzfall für das
Versenken alter Ölplattformen verhindern, jetzt seien Tiefseebohrungen
dagegen allgemeine Praxis. Nicht nur bei BP, auch bei zahlreichen anderen
Ölkonzernen rund um den Globus. "Je abstrakter die Gefährdung, desto
kleiner die Gruppen, die mobilisieren", sagt Roth.
3 Jul 2010
## AUTOREN
Sebastian Loschert
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