# taz.de -- Private Viewing mit Regisseur Pitts: Fußballstars sind unsere Pops… | |
> Rafi Pitts, Filmregisseur aus dem Iran, hofft auch für die WM auf die | |
> Auferstehungskräfte der Underdogs. Im Café Select in Pariser Montparnasse | |
> wird er wieder enttäuscht. | |
Bild: Rafi Pitts fühlt sich ziemlich einsam in seiner Leidenschaft für Fußba… | |
PARIS taz | "Die ersten konspirativen Treffen von Filmleuten haben da | |
hinten in der Ecke stattgefunden", sagt Rafi Pitts und zeigt mir, eben im | |
Café Select eingetroffen, einen Ecktisch, der sich tatsächlich den Blicken | |
der meisten anderen Besucher entziehen dürfte. Mit sechzehn, ungefähr, habe | |
er dort erstmals gesessen. Jetzt ist er 43, macht selbst Filme, und hier | |
hinten im Lokal läuft Fußball. | |
Noch allerdings die Tour de France, ehe die Nachrichten folgen, dann, ohne | |
Vorgeplänkel, wird das Halbfinale ausgestrahlt, Holland gegen Uruguay. "2:0 | |
für die Niederlande", sagt Rafi Pitts voraus. Er liebt Fußball, er wuchs im | |
Iran und in Großbritannien, also in zwei Fußballnationen auf, bevor er als | |
Jugendlicher zwischen London und Paris pendelte. Natürlich hat er auch | |
selbst gespielt. Dann wurde Rauchen zu seinem Lieblingssport. Er zuckt gut | |
gelaunt mit den Schultern. | |
Apropos, wo sind deine Zigaretten? Pitts grinst verschmitzt: "Ich hab | |
aufgehört, bis September. Wenn alles wieder gut ist, fange ich wieder an." | |
Er freut sich über mein Fragezeichen im Gesicht und erläutert: "Während der | |
Berlinale wurde klar, dass ich wegen ,Zeit des Zorns' ernsthaft in | |
Schwierigkeiten bin, also erst mal nicht zurück nach Teheran kann. Kurz | |
darauf wurde mein Regieassistent wegen meines Films verhaftet, und ich saß | |
hier in Paris und konnte nichts machen." | |
Jetzt ist Pitts sehr ernst geworden. "Ich musste dringend etwas gegen meine | |
Depression unternehmen", fährt er fort. "Entzugserscheinungen als Ablenkung | |
oder so eine Art Gegengift erschienen mir da hilfreich." Er greift zum | |
Perrier. "Geht es mir jetzt schlecht, dann denke ich: Das ist, weil dir die | |
Zigaretten fehlen, aber dieser Schmerz wird nachlassen. Es gibt also | |
Hoffnung." Und der Trick funktioniert? "Einigermaßen", sagt er und beginnt | |
in seinen Taschen zu kramen. Riesengroße Antibiotikatabletten kullern auf | |
den Tisch. "Die Zahnoperation heute war echt scheiße", er lächelt, "mit | |
Gegengiften bin ich gerade ziemlich gut dabei." | |
Natürlich will er wieder zurück in den Iran, aber nachdem sein Kollege | |
Rafar Panahi verhaftet wurde, könne ich mir ja ausrechnen, wie die | |
Situation im Moment sei. Alle schrieben, Panahi sei wieder frei, mithin | |
alles wieder gut, doch das sei Unsinn. Der Kollege wartet auf seinen | |
Prozess, und ob er jemals wieder einen Film drehen kann, ist offen. Es ist | |
noch nicht mal klar, weswegen sie ihn anklagen. "Und die Grüne Bewegung?", | |
frage ich. Pitts wägt jetzt jedes Wort ab: "Es gibt ein Problem zwischen | |
Basis und Führung", setzt er an. "Erstere ist ungeduldig. Sie will jetzt | |
eine Perspektive und vor allem eine Antwort darauf, wofür diese Revolution | |
eigentlich gut war und gut ist. Mussawi und seine Leute gehörten zum | |
einstigen Establishment, mit zu viel Aufbruchstimmung können sie nichts | |
anfangen. Insofern: Im Moment finden die beiden nicht gut zusammen." Gibt | |
es eigentlich Public Viewing im Iran? - Natürlich, man guckt in den Cafés, | |
ziemlich hoch her geht's da. Fußballstars sind unsere Popstars. | |
Die Stimmung im Café Select, dem traditionsreichen Intellektuellenort? Eher | |
lausig. Außer drei alten Männern am Nebentisch interessiert sich keine Sau | |
für Fußball. Wie überhaupt in ganz Paris Public Viewing kein Thema ist. | |
Selbst Le Monde hat an diesem Tag die Deutschen als einzigen Lichtblick der | |
WM gelobt. Der Pariser wendet sich wohl anderen Vergnügungen zu. | |
Pitts findet die Deutschen großartig. Unbedingt sollen sie gewinnen, gar | |
keine Frage. Für ihn verkörpert das Team von Löw das Grundprinzip dieser | |
WM: Keine Zeit für Stars. Gerade als sich Mick Jagger und Leonardo DiCaprio | |
anschicken, das Event für sich zu entdecken, und Paris Hilton mit Drogen | |
wedeln muss, um aufzufallen, okkupiert der Underdog Deutschland - "La | |
Mannschaft", wie es in Paris heißt - die Aufmerksamkeit fast allein. Pitts | |
findet das: großes Kino. | |
Das erste Tor für Niederlande fällt. Pitts fühlt mit Uruguay, schön war das | |
Tor trotzdem. "Königlich", meint der französische TV-Kommentator. | |
Was er am meisten vermisst? Pitts muss keine Sekunde überlegen: Im Iran, | |
sagt er, ist jeder mindestens einmal am Tag lebendig. Denn jeder muss | |
mindestens einmal am Tag ein Gesetz brechen, muss irgendwas tun, um sich | |
Luft zu verschaffen. Das elektrifiziert. Hier beklagten die Leute das | |
Wetter. Natürlich, wenn er aus Berlin oder Paris nach Teheran zurückkomme, | |
sei er die ersten Wochen immer vor allem wütend. Diese ständige Gängelei, | |
die Armut, die ganzen Drogen, mit denen die Leute sich ihre | |
Perspektivlosigkeit vom Hals zu schaffen suchen, aber dann gewöhnt man sich | |
dran und freut sich über jedes illegale Bier. Endlich, Uruguay holt auf. | |
"Siehst du", sagt Pitts, der gern auch mal den Zeigefinger hebt, "jetzt | |
kommt der Underdog ins Spiel, jetzt beginnt der gute Film!" Er strahlt. | |
Halbzeit. Wir kehren zur politischen Lage im Iran zurück. Nein, auf die | |
Dauer wird sich das Regime nicht halten können. Niemand kann es sich | |
leisten, sich nicht um die junge Generation zu kümmern. In vielem erinnere | |
ihn die heutige Situation im Iran an die Sechziger, Siebziger in | |
Frankreich. De Gaulle habe auch nicht begriffen, was da "unten" passiert. | |
Und auch im Iran denken sie, wenn sie die Tür schlössen, könnten sie die | |
Flut aufhalten. Grotesk! Die Frage sei nur, wie und ob Gewalt verhindert | |
werden kann. Niemand sollte für die Politik sterben, er habe das immer und | |
immer wieder gesagt. In den 80 Interviews, die er während der Berlinale | |
gegeben hat, wohl jedes Mal. | |
Wir sind mittlerweile bei der sechsten oder siebten Wasserflasche | |
angelangt, Uruguay kämpft, obwohl es zurückliegt, van Bommel will Zeit | |
schinden und erreicht das Gegenteil. Gemeinsam mit den drei alten Herren | |
halten wir die Luft an, damit sich die Lateinamerikaner in der letzten | |
Minute noch in die Verlängerung schießen. Doch dann kommt der Schlusspfiff, | |
und der Underdog bleibt der Underdog. Wir bitten um die Rechnung. "Du | |
radelst jetzt zurück ins Hotel?", fragt mich Pitts entgeistert. Klar, das | |
ist doch großartig mit den Leihrädern, die hier überall am Straßenrand | |
bereitstehen. Und nachts durch Paris fahren, "das ist doch perfekt!", | |
entgegne ich wiederum einigermaßen erstaunt darüber, dass er sich diesen | |
Spaß versagt. | |
7 Jul 2010 | |
## AUTOREN | |
Ines Kappert | |
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