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# taz.de -- Debatte Journalismus und Globalisierung: "Mit guten Gründen misstr…
> Die Globalisierung stellt ein riesiges Demokratiedefizit dar. Was es
> braucht, ist Journalismus, der sich keine Ideologien aneignet, sondern
> sich auf Realitäten einer vernetzten Welt einlässt.
Bild: Hier werden die materiellen Träger für die Datenströme der globalisier…
Mehr als das Internet schreckt mich die zunehmende Neigung unserer Zunft,
sich angstvoll mit sich selbst zu beschäftigen und darüber die
Auseinandersetzung mit der Welt zu vernachlässigen. Diese Tendenz, die
Wirklichkeit nur noch als Material für Texte oder Filme zu verstehen, also
"Armut" letztlich bloß für eine Rubrik zu halten, gehört zu den
beunruhigendsten Deformationen und scheint mir schädlicher als jeder
Konkurrenzdruck der Netzgemeinde.
Ich möchte über die gegenwärtige Lage der Welt sprechen und erst in einem
zweiten Schritt über den Journalismus, den es braucht, um auf diese Welt zu
reagieren. Es geht also nicht um eine deskriptive, sondern um eine
normative Betrachtung: Nicht der Journalismus, den es gibt, ist mein Thema,
sondern der, den es braucht, wenn denn Journalismus mehr - nämlich
Öffentlichkeit - sein soll.
Die globale Welt ist verwoben
Globalisierung in kultureller Hinsicht ist ein Prozess der Vermischung, der
Aneignung einer Tradition durch eine andere. Globalisierung bedeutet immer
auch Hybridisierung, Vieldeutigkeit, Vielsprachigkeit. Insofern ist es
gerade die Eindeutigkeit, die zu den eindeutigsten Verlierern der
Globalisierung gehört. Vermeintlich zweifelsfreie Behauptungen oder
einfache Gewissheiten sind seltsam stumpf und fragwürdig geworden.
Ironischerweise taugt ausgerechnet die Globalisierung nicht zur globalen
Analyse.
Die intellektuellen Landkarten können daher nicht einfach nur
internationaler, sie müssen präziser und kleinteiliger werden.
Globalisierung erzählt sich nicht global, sondern in lokalen Geschichten.
Und die Ambivalenz ist der große Gewinner der Globalisierung.
Alle Fantasien von "Reinheit" zerschellen an einer Wirklichkeit, die sich
vor allem durch dichte Verflechtung auszeichnet. Für die Medien bedeutet
das zunächst, dass der Konzeptjournalismus, der Geschichten gern in
Gewinner und Verlierer einteilt, der polare Perspektiven aufbereitet, zu
einfach, zu grobkörnig ist für die Figuren und Strukturen einer so
verwobenen Welt.
Es bedeutet auch, dass wir uns von dem so lieb gewonnenen Konzept der
"Authentizität" verabschieden sollten, dieser Vorstellung, es gäbe das:
einen "echten Muslim", einen "authentischen Juden"; dieses Reinheitsgebot,
das in Talkshows und auf Podien gepflegt wird, nur ein "echter Schwuler"
könne auch die Perspektive der Schwulen repräsentieren, nur eine "echte
Afghanin" könne die Position der Zivilbevölkerung Afghanistans erklären.
Und von dem Gedanken, wir seien unglaublich liberal und tolerant, dass wir
sie da reinlassen.
Aber wie ausdifferenziert und bunt gemischt es in diesen Kulturen und
Lebensformen zugeht, wie zerstritten und lebendig, widersprüchlich und
vielseitig die individuellen Biografien sind, wie sie dieses starre mediale
Bild einer reinen Kultur oder Lebensform unterwandern - das zeigen wir
selten. Was spräche denn dagegen, zwei Afghanen einzuladen bei einer
Diskussion über den Krieg? Was spräche dagegen, zwei Bundeswehrsoldaten
aufs Betroffenensofa zu setzen - und die Konflikte und Kontroversen
zwischen ihnen zu zeigen? Was spricht dagegen, auch mal andere Muslime
einzuladen: Es gibt nicht nur Necla Kelek und Seyran Attes, sondern auch
Hilal Sezgin, Nurkan Erpulat und Özlem TopCu - um nur mal drei zu nennen.
Warum sollten in Zeiten der Mobilität und Flexibilität nur Herkunft und
Zugehörigkeit zu einer Gruppe entscheidend sein? Wie sähe die
journalistische Landschaft aus, wie sähe unser Bild von der Welt aus, wenn
Juden nicht ausschließlich über Israel und den Holocaust ausgefragt würden,
wenn Muslime nicht ausschließlich über al-Qaida und Ehrenmorde reden
müssten und Schwule nicht ausschließlich über Sex? (Da sind sie immerhin in
einer besseren Lage als Lesben, die dürfen nicht einmal über Sex reden.)
Anders gefragt: Zementieren wir mit unserer medialen Politik des
Authentischen nicht die Vorstellung von einer Welt, die angeblich
auseinanderfällt an den religiösen oder kulturellen Bruchstellen? Spielen
wir damit nicht genau den radikalen Dogmatikern und Extremisten zu, die
sich exakt diese Konfliktlinien nur wünschen? Und übersehen wir nicht
stattdessen all die ökonomischen und sozialen Differenzen, von denen
neoliberale Strategen sich wünschen, dass wir sie übersähen?
Wenn uns die Finanzkrise eines vorgeführt hat, dann, dass Globalisierung
vor allem wechselseitige Verwundbarkeit bedeutet. Anders noch als der 11.
September 2001, der als politisches Ereignis die Verwundbarkeit einer
einzelnen Nation vorführte, und anders als die Wirtschaftskrise in
Argentinien 2001, die uns den fiskalischen Zusammenbruch eines Landes
zeigte, gab es bei der Finanzkrise 2008 f. kein Außen mehr, keine Gegend,
die nicht betroffen wäre.
Die globale Welt ist verwundbar
Die wechselseitige Verwobenheit entpuppte sich als wechselseitige
Verwundbarkeit. Die Eurokrise und die Instabilität Griechenlands bedeuten
zudem, dass es keine unwichtigen Länder mehr gibt. Auch ein kleines,
politisch schwaches Land kann das gesamte System gefährden.
Was das für den Journalismus heißt? Ich denke, es brauchte einen
Journalismus, der sich nicht grundlos eine Ideologie zu eigen macht, nur
weil sie sich gerade durchsetzt. Aus dem Sein lässt sich kein Sollen
ableiten.
Es braucht einen Journalismus, der es wieder wagt, mit guten Gründen zu
misstrauen. Denn nur so ist eine Krise des Vertrauens, wie sie im Moment
besteht, zu vermeiden: indem wir rechtzeitig und begründet Zweifel äußern.
Indem wir, als Journalisten, uns einer Aufgabe besinnen, die etwas aus der
Mode gekommen scheint: Ideologiekritik als eine Form der Aufklärung, auf
die wir uns ansonsten doch so vollmundig berufen.
Die Globalisierung, so Nial Fergusson, ist gekennzeichnet durch eine
Verdichtung von Raum und eine Beschleunigung von Kommunikation, sie
bedeutet letztlich die Aufhebung von Distanz. Mich interessiert hier nicht
die Frage, ob diese Beschleunigung den Untergang des Printjournalismus nach
sich zieht. Mich interessiert, was diese Beschleunigung von Kommunikation
und die Entwicklung des Internets für unsere Vorstellung von Demokratie
bedeuten.
Demokratie bedeutet, dass diejenigen, die von einer politischen
Entscheidung betroffen sind, auch an ihrer Entstehung beteiligt werden.
Eben für diesen Prozess, diesen Entscheidungsfindungsprozess, in dem die
Betroffenen Rechte und Werte erwägen und erörtern können, braucht es in
einer Demokratie eine kritische, unabhängige Öffentlichkeit. Es ist nicht
wichtig, ob das per Radio oder Fernsehen, in Wochenzeitungen auf
Marktplätzen oder im Netz stattfindet. Aber es braucht einen öffentlichen
Ort, an dem eine Gesellschaft sich über ihre Werte und ihre Lebensweise
verständigen kann.
Die globale Welt ist vernetzt
In dieser Hinsicht stellt die Globalisierung ein riesiges Demokratiedefizit
dar: Es sind unendlich viel mehr Menschen von politischen, ökonomischen,
ökologischen oder sozialen Entscheidungen betroffen als an ihrer
Entscheidung beteiligt. Und hier braucht es einen Journalismus, der die
Anderen nicht nur als Andere begreift, sondern diese Verwobenheit auch
abbildet; der die Anderen als Eigene thematisiert - weil sie ein Recht
haben, an den Diskussionen beteiligt zu werden, die sie selbst betreffen.
Es braucht einen Journalismus, der die eine globale Welt entwirft, auch
wenn sie demokratisch noch nicht existiert; der immer mit einem utopischen
Vorgriff das "Wir" einer Öffentlichkeit behauptet, auch wenn die politische
Ordnung es noch unterdrückt. Aus dieser Perspektive, mit einem Blick für
die demokratische Funktion einer Öffentlichkeit, als der Ort, an dem eine
Gesellschaft über ihre Werte streiten kann, aus dieser Perspektive erst
wird die Entstehung des Internets interessant.
Wenn es stimmt, dass das Internet die Öffentlichkeit zunehmend
individualisiert und fragmentiert, was bedeutet das für eine Gesellschaft?
Wie gelingen dann noch die demokratisch so wichtigen
Selbstverständigungsdiskurse über Werte und Normen? Inwiefern vergrößert
zwar das Internet die partizipativen Möglichkeiten der Kommunikation,
verringert aber die Gemeinsamkeiten, über die kommuniziert werden kann?
Wenn ich also zum Schluss sagen darf, was für einen Journalismus es braucht
für diese Welt, dann würde ich mir Folgendes wünschen: einen Journalismus,
der misstrauisch ist und zweifelnd daherkommt - nicht besserwisserisch,
sondern fragend. Ich würde mir Geschichten wünschen, die ambivalent und
offen sind, nicht eindeutig und geschlossen. Und Journalisten, die
teilnehmend, nicht distanziert beobachten; die sich einlassen auf die
Wirklichkeit jenseits des Hauptstadtbüros und den Blick für die "feinen
Unterschiede" behalten. Ich würde mir einen Journalismus wünschen, der alle
Genres des Internets entdeckt, der sich die Räume dort erobert, wo es nötig
ist, und sie sein lässt, wo es möglich ist.
Wie hat Henry Kissinger in Newsweek gesagt: "You have to know the
difference between what is urgent and what is important." In diesem Sinne
wünsche ich mir einen Journalismus, der sich weniger am Eiligen als am
Wichtigen orientiert.
12 Jul 2010
## AUTOREN
Carolin Emcke
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