# taz.de -- Staatliche Schule für Artistik: Nun wird mit dem Geld jongliert | |
> Der Jongleur Bertan Canbeldek verlässt die Schule für Artistik mit der | |
> Abschlussnote 1. Was nun? Erstmal geht er mit Mitschülern auf Tournee | |
Bild: Die Jobs für Artisten liegen nicht auf der Straße. Oder doch? | |
An der Tür von Bertan Canbeldeks Umkleidekabine steht nicht "Bertan | |
Canbeldek", sondern "Eike von Stuckenbrok". Wie Stuckenbrok, der in der | |
Varietéshow "Made in Berlin" sein beeindruckendes Können zeigt, ist auch | |
Canbeldek Artist - und er wäre gerne bald so bekannt wie sein Kollege. Eine | |
Woche lang bereitet sich der 18-Jährige in Stuckenbroks Kabine auf seine | |
großen Auftritte vor: Es geht um den Abschluss seiner Ausbildung. | |
Der schlaksige Junge, der hier entspannt vor dem Spiegel steht, hat einen | |
ganz besonderen Anspruch. "Ich bin zwar nicht der beste Jongleur", sagt er. | |
"Mein Ziel ist es auch nicht vorrangig, den Menschen zu zeigen, was für | |
tolle Sachen ich kann. Ich möchte zeigen, wer und was ich bin - die | |
Persönlichkeit muss stimmen." | |
Bertan Canbeldek ist einer der zwölf diesjährigen Absolventen der | |
Staatlichen Schule für Artistik Berlin. Bereits zum sechsten Mal | |
präsentiert die Abschlussklasse der Schule im Wintergarten Varieté in | |
Schöneberg derzeit ihr Programm. Unter dem Titel "BookStories" zeigen die | |
Nachwuchsartisten Trapezakrobatik, Jonglage und andere Facetten der | |
Körperkunst. Die Show markiert ihren Schulabschluss - mit dem Programm | |
gehen sie noch in dieser Woche auf ihre erste Tournee durch Deutschland. | |
Seit mehr als 50 Jahren bildet die Schule in Prenzlauer Berg junge Menschen | |
mit Talent zu Artisten aus. Im vergangenen Schuljahr wurden allein im | |
Fachbereich Artistik rund 60 Schüler unterrichtet. Die Karriere beginnt mit | |
einer Aufnahmeprüfung; dabei müssen die zukünftigen Schüler ihr Können in | |
Disziplinen wie Bodenturnen, Jonglage und Trapez unter Beweis stellen. In | |
der Schule, die bereits mit Klasse fünf beginnt, erhalten sie neben Fächern | |
wie Deutsch und Mathematik auch Unterricht in artistischen Disziplinen - | |
täglich bis zu vier Stunden. Später spezialisiert sich jeder Künstler auf | |
ein bestimmtes Gebiet, am Ende der 13. Klasse wird er dann darin geprüft. | |
Bertan Canbeldek wollte schon immer Artist werden - oder Erfinder oder | |
Architekt. "Ich habe zwei Schwestern, beide besuchten in ihrer Kindheit den | |
Kinderzirkus Cabuwazi", berichtet er. Irgendwann habe ihn eine der beiden | |
dorthin mitgenommen. "Ich habe mich sofort wie zu Hause gefühlt." Der | |
Siebenjährige startete seine Artistenkarriere mit Disziplinen wie Laufen | |
auf Kugeln und Pyramidenbau aus Menschen. Balancieren auf einem Ball blieb | |
jedoch nicht lange seine Leidenschaft. "Ich trat vor allem als Clown und | |
Zauberer im Cabuwazi auf." Später schaffte die älteste Schwester den Sprung | |
auf die Berliner Artistenschule - und Bertan wollte fortan auch dorthin. | |
"Ich hatte aber davon überhaupt keine Ahnung. Ich konnte weder eine | |
ordentliche Vorwärtsrolle noch Klimmzüge." Schlechte Voraussetzungen. Seine | |
Schwester trainierte nebenbei auch ihn, mehrere Stunden täglich - er | |
bestand die Aufnahmeprüfung im ersten Anlauf. | |
Canbeldek startete als Quereinsteiger in der 9. Klasse. Zuerst habe er sich | |
auf Kontaktjonglage spezialisiert. Dabei wird ein Ball aus Plexiglas | |
balanciert - und bleibt dabei immer in Kontakt mit dem Körper. "Doch es | |
hätte mich Jahre gekostet, dafür das Gefühl zu entwickeln." Einer der | |
Trainer drückte ihm drei Bouncing-Bälle in die Hand: Anders als bei der | |
üblichen Jonglage werden diese nicht nach oben geworfen, sondern auf den | |
Boden, von wo sie zurückspringen und vom Künstler aufgefangen werden. "Ich | |
hatte sofort großen Spaß damit", sagt Bertan Canbeldek und lächelt. | |
Nur das Training sei sehr schwierig gewesen, die Bälle seien ständig | |
weggesprungen. "Ich habe mir zu Beginn aus Kisten und Turnmatten eine Burg | |
gebaut, um das zu verhindern", sagt er. "Ich habe es immer wieder probiert, | |
war teilweise wie in Trance. Es war ein echter Kampf gegen mich selbst." | |
Doch sein Traum von der Artistenkarriere trieb ihn an. "Seit ich mich damit | |
beschäftigt habe, wollte ich nie etwas anderes machen. Auch wenn ich dafür | |
kein Geld bekommen würde, wäre ich Jongleur." | |
Diese Leidenschaft hat er sich erhalten. Bei den Vorbereitungen zur | |
Abschlussshow hüpft er von einem Bein auf das andere, witzelt mit den | |
Technikern im Backstage-Bereich. Er unterhält nicht nur Zuschauer, sondern | |
auch die Mitglieder des Ensembles, während er seine schwarzen Haare für den | |
Auftritt mit ausreichend Haarspray in Form bringt. | |
Seine Familie und seine Freunde hätten mit seinem Berufswunsch nie Probleme | |
gehabt, sondern ihn sogar darin bestärkt. Besonders seine Eltern seien sehr | |
stolz - und nicht erst nach seinem Abschluss mit der Note 1. Zwar höre er | |
gelegentlich Phrasen wie "brotlose Kunst" - doch "nach einem kurzen | |
Gespräch gibt sich das von selbst". | |
Lampenfieber habe er nie. "Ich möchte einfach auf die Bühne, Stimmung | |
machen", sagt er gelassen. "Ich könnte vor 500 Leuten mit meiner Brotdose | |
sitzen und essen, es würde mich nicht stören." Ein einziges Mal sei er | |
richtig nervös gewesen, berichtet der 18-Jährige. "Damals saß meine | |
Schwester im Publikum." | |
Schwierig sei jedoch der Übergang vom Training auf die Bühne. Unsicher sei | |
er gewesen, nachdem er seine Hilfskonstruktionen aus Kisten und Matten | |
entfernt hatte. "Man gewöhnt sich in dieser kurzen Zeit so an diese | |
Sicherheit, die man sich aufbaut, dass man sich zuerst nicht traut, ohne | |
aufzutreten", sagt er nachdenklich. Vielen Artisten ergehe es ähnlich. So | |
sei es beispielsweise für Trapezkünstler schwer, sich an Shows ohne Netz | |
und doppelten Boden zu gewöhnen. | |
An diesem Freitagabend steht er bei der Absolventenshow auf der Bühne und | |
wirft - als hätte er nie etwas anderes gemacht - bis zu sieben Bälle auf | |
den Boden und fängt sie gekonnt wieder ein. Man hat den Eindruck, dass | |
Canbeldek mit jedem Ball seinem Kindheitstraum ein Stückchen näher rückt. | |
Er hat Spaß, bringt seine Zuschauer zum Lachen. Auch sonst ist der quirlige | |
Junge der Spaßvogel der Klasse. "Das ist im richtigen Leben manchmal | |
wirklich anstrengend. Auf der Bühne kann ich meine lustige Ader aber gut | |
einsetzen. Ich bin einfach so." Schließlich verabschiedet sich Bertan | |
Canbeldek unter tosendem Applaus von den rund fünfhundert anwesenden | |
Zuschauern. | |
"Es war wirklich großartig", sagt er nach dem Auftritt, seine Augen | |
glänzen. Es sei aber nicht so spektakulär gewesen wie die Premiere. Dabei | |
hatten die Nachwuchsartisten ihre Abschlusszeugnisse erhalten. "Als ich | |
mich am Ende auf der Bühne verbeugte, wurde mir schlagartig klar, dass ich | |
mit meiner Darbietung nun Geld verdienen muss, dass ich jetzt mein eigener | |
Chef bin." | |
Wie viele andere Artisten hat Bertan Canbeldek den Traum, im berühmten | |
Cirque du Soleil, einem auf Artistik ausgelegten kanadischen Zirkus, | |
aufzutreten. "Ich möchte aber möglichst meinen eigenen Stil beibehalten", | |
sagt er. Zunächst müsse er sich nun ein Netzwerk aufbauen. Bei diesem | |
Einstieg in die Karriere hilft auch die Schule. "Wir sind bemüht, einen | |
guten Anschluss für die Schüler zu schaffen", sagt der künstlerische Leiter | |
Roland Wendorf. So werden zur Abschlussgala auch Agenten eingeladen, um | |
Kontakte zu knüpfen. "Es ist nicht unsere Pflicht, aber wir bemühen uns | |
sehr." | |
Das ist auch nötig. Denn die Engagements liegen nicht auf der Straße. Vor | |
allem Jobs von Dauer sind rar, berichtet eine Mitschülerin von Canbeldek. | |
"Man muss oft viel hin und her reisen und von einer Aufgabe zur nächsten | |
springen." | |
Für Bertan Canbeldek ist neben dem Erfolg eines besonders wichtig - und | |
dabei wird der sonst so humorvolle junge Mann plötzlich ernst. "Man sollte | |
nie vergessen, wo man herkommt." Er mache aus seiner türkischen Abstammung | |
und seiner Heimat Kreuzberg trotz vieler Klischees kein Geheimnis. | |
"Vielleicht kann ich damit auch etwas zur Integration beitragen." Deshalb | |
hat Bertan Canbeldek schon jetzt unter dem Türschild "Eike von Stuckenbrok" | |
ein neues, handgeschriebenes, aufgehängt: "Bertan von Kreuzberg". | |
13 Jul 2010 | |
## AUTOREN | |
Florian Thalmann | |
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