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# taz.de -- Das Schlagloch: Freiwillige Unterwerfung
> Warum es sich lohnt, bei Lou Andreas-Salomé Islamunterricht zu nehmen.
Früher war es so einfach zu wissen, wer man ist: "Die Vorzüglichsten unter
den Menschen sind die Araber, unter diesen die Modarstämme, unter diesen
die Kejsiten, unter diesen die Sippe der Iasur, unter diesen die Familie
Ganijj, und unter den Ganijj bin ich selbst der Vorzüglichste. Also bin ich
der Vorzüglichste unter den Menschen." So sprach Abu Rabi in der zweiten
Hälfte des ersten Jahrhunderts.
Etwas von der Zuversicht eines Abu Rabi braucht wohl jeder, erst recht,
wenn er jung ist. Und die jungen Männer brauchen es, so sagt man, ganz
besonders. Und unter diesen, so sagt man auch, besonders die Neuköllner und
Kreuzberger jungen Männer. Meist klingt das wie ein Vorwurf.
Am vorläufigen Ende der ganzen Entwicklung, die man auch
Zivilisationsprozess nennt, weiß der Mensch zwar sehr vieles: Nur wer er
ist, kann er kaum mehr sagen. Er ist vor allem eins: voll unbestimmt.
Werdet gute Demokraten!, lautet die Aufforderung an alle. Aber ist das
wirklich eine Identität? Anders gefragt: Ist es nicht eher eine Sekundär-
als eine Primäridentität?
Die Zivilisation ist zuerst und zuletzt eine Unterwerfung des Einzelnen.
Das lässt sich kaum besser illustrieren als an der Geschichte des Islam,
genauer: an seiner Vorgeschichte. Der Sommer ist eine gute Jahreszeit für
Aus- und Abschweifungen aller Art. Wagen wir also die These: Die alten
Araber waren das Muttervolk, oder nein, das Vatervolk der Freiheit!
Abu Rabi lebte lange vor Mohammed. Man hat ihm und seinem Volk lange jede
religiöse Begabung bestritten. Denn die alten Araber, so lautete der
Konsens, seien das irreligiöseste Volk unter der Sonne gewesen. Weshalb es
notwendigerweise schwierig wurde, als es eine Religion übergestülpt bekam,
die in nichts zu dem passte, was es bisher von sich gewusst und geglaubt
hatte. Nein, geglaubt hatte es eben noch nie.
Es war eine Frau, die vor mehr als einhundert Jahren die religiöse Begabung
der vorislamischen arabischen Welt bemerkte. Und zwar als Fähigkeit zur
Selbstvergottung! Lou Andreas-Salomé erkannte dieses Talent ausdrücklich
an: "Die vornehmste Eigenschaft des Verhältnisses zwischen Menschen und
Göttern, jene naive Intimität, in der der kraft- und lebensvolle Egoismus
des Einzelnen und seines Stammes geheiligt und verklärt erschien, musste zu
Gunsten einer Kultur zu Grunde gehen, die zwar die rohesten Formen des
Aberglaubens und die engsten Scheidewände zwischen Mensch und Mensch, aber
auch die höchste menschliche Selbstherrlichkeit zerbrach, die es vielleicht
je auf Erden gegeben hat." Das ist doch eine Wahrnehmung! Und zudem von
einer Frau - zu einer Zeit, da noch fast niemand ernsthaft glaubte, dass
eine wie sie überhaupt möglich ist: Lou Andreas-Salomé, Deutschlands erste
Intellektuelle!
Es ist überaus interessant, bei ihr Islamunterricht zu nehmen, denn sie
konnte etwas, was wir zunehmend verlernen: mit vielen Augen zugleich auf
einen Gegenstand sehen. Nur die Fortschritte erkennen zu wollen, macht
blind für die Rückschritte, die sich in den Fortschritten einkapseln.
Die alten Araber wussten nichts von einem Gebet oder einer Seele. Ist das
Gebet nicht seinem innersten Wesen nach Selbstdemütigung? Und dann auch
noch, um von einem anderen etwas zu erreichen? So gab es auch kein Wort für
diese Neuerung, als Mohammed sie einführen wollte, er musste sie dem
Christentum entnehmen. Und was um Himmels Willen sollten sich die alten
Araber unter einer Seele vorstellen? Sie brauchten nicht die Seelen ihrer
Ahnen verehren, sie trugen ihre Ahnen immer bei sich, nämlich im eigenen
Blut; ihr eigener Rang, ihr Ansehen hatten sie ihnen zu verdanken. Die
Pflicht zur Blutrache liegt unter diesen Umständen auf der Hand. Das
altarabische Wort nasab bedeutete "Aufzählung der ruhmreichen Taten der
Ahnen." Das Einzige, was hier anzubeten war, waren demnach sie selbst. Und
ein starkes Selbst darf sich schon um seiner weiteren Stärkung willen
keinen Genuss versagen: "Gib mir, o Freund, Wein zu trinken!" Nach Mohammed
lautete der Vorsatz dann: "Gib mir, o Freund, Wein zu trinken; wohl weiß
ich, was Gott über den Wein geoffenbart hat. Dennoch trinke ich ihn in
aller Frühe mit vollen Zügen."
Die Religionswissenschaft hat immer ein wenig hochmütig auf Mohammed
geblickt. Eine derart von den Nachbarn geklaute Religion zu verkünden! Die
erste deutsche Intellektuelle sah das ein wenig anders: "Keiner vor ihm hat
je eine Offenbarung zu Stande gebracht, die sich so außer allem
Zusammenhang mit der Anschauungsweise seines Volkes befunden hätte." 50
Gebete täglich hatte Gott zuerst angeordnet. Auf fünf konnte Mohammed ihn
schließlich herunterhandeln, als Moses noch immer Bedenken hatte: Fünf?
Würde dieses Volk wirklich so viele schaffen?
Es musste. Schon damals war letztendlich die Globalisierung schuld. So
viele Flüchtlinge und entlaufene Sklaven gab es irgendwann in Medina, die
hatten keinen Stamm, zu dem sie gehörten und der sie beschützte. Die hatten
auch keinerlei Verdienstmöglichkeit, wenn man von der Möglichkeit absah,
die Karawanen zu überfallen, die von Mekka kamen. Und sie beschlossen, von
dieser Möglichkeit keinesfalls abzusehen. Medina war die erste Stadt, die
sich zum Propheten Mohammed bekannte.
Alle Menschen, alle Völker sind gleich, sagt der Islam. Vor allem, nachdem
er sie unterworfen hatte. Die Karawanen von Mekka waren nur der Anfang. So
schien den Wüstensöhnen ihre neue Religion mit dem so unpassenden Gott
gleich viel vertrauter.
Anderen Völkern war von Anfang an viel unterwerfungswilliger, viel
unfreiheitlicher zu Mute. Den alten Arabern aber, diesem - sagen wir -
Urvolk der Freiheit, fiel es am schwersten, das Gesicht statt in den freien
Wüstenwind einem Gott entgegenzuhalten und die Augen vor ihm
niederzuschlagen. Sollte es mit einer solchen Vorgeschichte nicht eine
besondere Begabung zur Demokratie haben, die doch nichts anderes ist als
freiwillige Selbstbeschränkung aus Stärke?
13 Jul 2010
## AUTOREN
Kerstin Decker
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