# taz.de -- Vorwürfe: Der nette Onkel | |
> In einer Pfingstgemeinde des Hamburger Vororts Neugraben soll ein | |
> Jugendleiter Jungen sexuell missbraucht haben. Der Mann leitete bis heute | |
> eine Organisation, die sich um Waisenkinder kümmert. | |
Bild: Verein "Paketaktion Ost": Diese Hütte steht im Vorgarten des Hauses von … | |
Das Grundstück der Freien Gemeinde Neugraben liegt am Waldrand. Es ist ein | |
weitläufiges Grundstück, mehrere ältere Häuser stehen am Hang verstreut. Wo | |
der Kirchenraum untergebracht ist, sieht man nicht. Aber es gibt ihn. | |
Werner M. ist dort ein- und ausgegangen, in leitender Funktion als | |
Seelsorger. "Er hat auch Prophezeiungen gemacht", sagt Martin, der wie er | |
sagt, ein Opfer von Werner M. ist. "Das müssen Sie sich mal vorstellen! Er | |
stand da am Taufbecken und hat den Kindern die Zukunft prophezeit." | |
Martin ist jetzt 38 Jahre alt, ein muskulöser jugendlich wirkender Mann. | |
"Ich hab' halt viel Sport gemacht und auch Anabolika genommen", sagt er. | |
Geholfen hat es wenig. Nachts habe er weinen müssen, jahrelang. Derzeit | |
arbeitet er viel. Schichtdienst, in einer Gießerei in Finkenwerder. | |
An das erste Mal, sagt Martin, erinnere er sich genau, es war im Restaurant | |
Heidekrug in Neugraben, er war zwölf. Sie hatten da gegessen, und Werner | |
habe ihm schon im Restaurant zwischen die Beine gefasst. Draußen stand | |
Werners Auto, sie setzten sich hinein, Werner wollte ihm die Hose öffnen. | |
200 Mark habe er ihm geboten, "aber ich wollte nicht", sagt Martin. Er sei | |
weggelaufen, seine Mutter könne bestätigen, dass die Hose kaputt war. | |
Eine Vaterfigur | |
Entkommen konnte Martin seinem Peiniger nicht. Werner M. war Jugendleiter | |
in der Freien Gemeinde, Martin war einer der Söhne des | |
Hausmeister-Ehepaars, das auf dem Grundstück wohnte. Werner M. sei eine | |
Vaterfigur gewesen, sagt Martin, "man hat sich bei ihm wohlgefühlt". Noch | |
mit 18 sei er für einen Monat bei Werner M. eingezogen, der habe ihm sein | |
erstes Anabolika besorgt. "Dann meinte er, ich muss dich untersuchen", sagt | |
Martin. Dabei musste er die Hose runterlassen, Werner M., der gelernter | |
Krankenpfleger ist, habe einen Handschuh angezogen und versucht, ihn zu | |
stimulieren. | |
"Wie konnte ich nur so dumm sein", sagt Martin heute. Es ist dieselbe | |
Geschichte, die man aus anderen Fällen kennt, in Ahrensburg und anderswo, | |
nur dass der Tatort nicht die evangelische Kirchengemeinde der | |
Nordelbischen Landeskirche ist, sondern eine freie Pfingstgemeinde, deren | |
Mitglieder an Propheten glauben und an die baldige Entrückung. Und daran, | |
dass sie durch die Kraft des Glaubens geheilt würden. | |
Anfang der 90er Jahre habe der Gemeindevorstand ein Gespräch mit Werner M. | |
geführt, sagt Martin. Ihm sei vorgeworfen worden, er führe keine richtige | |
Ehe, sei homosexuell und habe ein Alkoholproblem. Wenig später verließ | |
Werner M. die Gemeinde. Deren heutiger Leiter, Winfried Wentland, ist erst | |
seit 1995 im Amt, vorher war er in Afrika missionieren. Als er zurückkam, | |
sei die Geschichte vorbei gewesen, sagt er. "Da war kein Gesprächsbedarf | |
mehr." | |
LKA ermittelt | |
Doch Martin hat Gesprächsbedarf. Seine Mutter hatte sich an Reinhold Dalke | |
gewandt, ein ehemaliges Gemeindemitglied, das im Streit ausgeschieden ist | |
und bereits öffentlich die Zustände im Seniorenheim der Freien Gemeinde | |
kritisiert hatte, das sich auch auf dem Gemeindegrundstück befindet. Sie | |
habe Angst, ihre Söhne seien missbraucht worden, sagte sie zu Dalke, und | |
Martin begann zu reden, das erste Mal. | |
Er hat seine Geschichte dem Süderelbe Wochenblatt erzählt und auch dem | |
Landeskriminalamt (LKA), das in der Sache ermittelt. Sieben Betroffene | |
hätten sich gemeldet, sagt Polizeisprecher Holger Vehren, sechs davon seien | |
vernommen worden. Unter denen, die sich gemeldet haben, sind die zwei | |
Brüder von Martin und drei befreundete Jungen, die sie in die Jugendgruppe | |
mitbrachten. | |
"Werner hat von uns Nacktfotos gemacht", sagt Martin. Sie hätten bei ihm | |
Pornos schauen dürfen, und er hätte ihnen Eintrittskarten für das | |
Sex-Theater Salambo auf der Reeperbahn besorgt. "Das hatte allerdings | |
damals zu", sagt Martin. | |
Das Landeskriminalamt sagt, dass die Übergriffe in der Gemeinde sich | |
zwischen 1985 und 1990 abgespielt haben. Wenige Jahre später beschwerten | |
sich Insassen des psychiatrischen Krankenhauses Ochsenzoll über Werner M., | |
der dort als Krankenpfleger arbeitete. 1998 wurde er wegen "sexuellen | |
Missbrauchs von Schutzbefohlenen" zu einer Strafe von zwei Jahren auf | |
Bewährung verurteilt. Bereits ein Jahr zuvor war er vom Dienst suspendiert | |
worden. | |
Das hinderte Werner M. jedoch nicht, seine andere Arbeit weiterzuführen. | |
Seit 1972 ist er Vorsitzender des gemeinnützigen Vereins "Paketaktion Ost", | |
der nach eigenen Angaben litauischen und rumänischen Waisenkindern hilft. | |
Im Vorgarten von Werner M. steht ein Schuppen mit einem Schild, das auf den | |
Verein hinweist. In der einen Richtung werden Hilfsgüter in den Osten | |
geschafft, manchmal kommen aber auch Waisenkinder nach Hamburg, wo sie auf | |
Familien verteilt werden. "Von denen haben wir schon welche in seinem Haus | |
gesehen", sagt Reinhold Dalke. Polizeisprecher Vehren sagt, man habe mit | |
Werner M. inzwischen eine "Gefährderansprache" geführt. "Wir haben gesagt, | |
wenn da was dran sein sollte, lass es lieber." | |
Gegenüber dem Süderelbe Wochenblatt hat Werner M. alle Vorwürfe dementiert | |
und gesagt, er habe "nie ein Kind sexuell belästigt". Warum ihm das | |
vorgeworfen werde, wisse er nicht. Für die taz war M. gestern nicht zu | |
sprechen. Auch sein Anwalt, der ebenfalls in Neugraben wohnende Harburger | |
CDU-Chef Ralf-Dieter Fischer, war nicht erreichbar. Aus seinem Büro hieß | |
es, er sei verreist. | |
Familie rückt ab | |
Strafrechtlich belangt werden kann Werner M. nicht mehr, die Taten, derer | |
er von Martin und seinen Brüdern bezichtigt wird, sind verjährt. Doch auch | |
seine Familie rückt von ihm ab, seit herausgekommen ist, dass einer der | |
Betroffenen, die sich beim LKA gemeldet haben, ein Neffe von ihm ist. | |
Anhand von Tagebuchaufzeichnungen hat der rekonstruiert, was sein netter | |
Onkel Werner mit ihm gemacht hat, als er 16 war. Auch hier geschah es im | |
Auto, auch hier wurden die Hosen heruntergelassen. Mittlerweile ist der | |
Neffe ein bekennender Schwuler, er lebt in Berlin und macht Travestieshows. | |
"Aber für meinen Selbstfindungsprozess war das kein angenehmes Erlebnis", | |
sagt er. | |
23 Jul 2010 | |
## AUTOREN | |
Daniel Wiese | |
## TAGS | |
Religionskritik | |
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