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# taz.de -- Kolumne Das Schlagloch: Gefährliche Ordnungsmacht
> Die Katastrophe bei der Loveparade in Duisburg zeigt: Wir wollen das
> Großspektakel und verachten die Masse.
Zahlreiche Verletzte, 20 Tote, Ohnmacht und Trauma. Kein unabwendbares
Schicksal, keine unbegreiflichen Naturkräfte, keine Terroristen und keine
Amokläufer. Die Katastrophe bei der Loveparade in Duisburg wurde
hergestellt. Ein unberechenbares Geschehen, das sich aus lauter
berechenbaren Umständen entwickelte. Alles wäre vermeidbar gewesen. Im
Nachhinein kann man sich die Chronik einer angekündigten Katastrophe dieser
Art nur als Verkettung von Verblendungen erklären. Die einen konnten, die
anderen wollten und die dritten durften die Gefahren nicht sehen und
benennen. Vielleicht unter anderem weil man in der Gesellschaft des
Spektakels die Masse zugleich liebt und verachtet.
Wunder Punkt der Spaßmasse
Die hedonistische Masse, die nicht zuletzt ihre eigene Friedfertigkeit,
ihre politische Unschuld, ihre prinzipielle Offenheit feiert, wird an ihrer
empfindlichsten Stelle getroffen, am Widerspruch zwischen der Masse und
ihrem Sinn. Die soziale Bewegung, die nichts als das kurze kleine Glück
aller Beteiligten zum Inhalt hat, lässt sich nicht garantieren; viele
Menschen eng beieinander im öffentlichen Raum, diese Situation bleibt
katastrophenanfällig. Freiheit und Disziplin, Kontrolle und Chaos begegnen
sich, und auch in einer hedonistischen Masse macht gerade das einen Teil
der rauschhaften Übersteigerung aus. Und der Gefahr.
Vieles erinnert dabei an das Szenario amerikanischer Katastrophenfilme,
die, durchaus nicht unrealistisch, immer wieder vom Zusammentreffen zweier
Komponenten erzählten, um eine Masse von amüsierwütigen und mehr oder
weniger "nichts ahnenden" Menschen ins Verderben zu schicken, nämlich von
der Profitgier irgendwelcher Veranstalter, Manager und Regionalpolitiker
und der Inkompetenz der Organisatoren, Wachleute und Polizisten
(uneigennütziger Einsatz und persönlicher Heldenmut Einzelner inklusive).
Was daraus entsteht, und in Duisburg war es wie nach einem Drehbuch, ist
das Empfinden einer Opferung, ein fundamentales Ausgeliefertsein. Die
Ökonomie lockt den Menschen in eine Falle, und die Vertreter der
öffentlichen Ordnung bewahren ihn nicht davor.
Was diese Vorstellung anbelangt, so könnte sich das Geschehen als besonders
furchtbares Beispiel in eine Reihe stellen mit anderen Katastrophen oder
Beinahekatastrophen, die sich, wie der Ausfall der Klimaanlagen in den
ICE-Zügen und die Unfähigkeit der Verantwortlichen, mit der Situation
vernünftig und menschlich umzugehen, als Ankommen der großen Gier der
Finanzkrise und ihrer Folgen in unserem Alltag inszeniert. Um des Profits
willen wird an der Sicherheit gespart; die Stimmen der Mahner werden zum
Verstummen gebracht, und wie bei der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko
riskieren Firmen, Sponsoren, Manager und Politiker Situationen, deren
Gefahren zu kontrollieren sie selbst nicht einmal die Mittel haben. Das
"positive" ökonomische Denken erzeugt eine immer radikalere
Risikoblindheit.
Katastrophe hausgemacht
Wenn also die Neunzigerjahre die Jahre der Katastrophen von außen waren,
der Terroranschläge, Selbstmordattentate und Kriegsdrohungen, die die
"Verwundbarkeit" des Systems belegten, dann scheint das erste Jahrzehnt des
neuen Jahrhunderts von den selbst gemachten Katastrophen beherrscht (nicht
dass die alten verschwunden wären), von Metaphern der Verderbtheit.
Aber das eben ist die nächste wirkmächtige Vorstellung, die sich angesichts
von Megaveranstaltungen einstellt: diese Magie der großen Zahl, die zuerst
Euphorie auslöst und dann das pure Entsetzen. Es ist die Vorstellung der
"Masse", die da wieder da ist in einer Gesellschaft, die mit Massen ja
eigentlich nicht viel zu tun haben will. Das Event als adäquate Form der
Masse in der Spaßgesellschaft ist gleichsam katastrophal über sich selbst
hinausgewachsen. Man hatte eine Zeit lang die Illusion, sie in Form von
Fan-Meilen, Volksfesten und eben Loveparades gebändigt zu haben.
Katastrophale Massen gab es anderswo, in Mekka zum Beispiel; katastrophale
Massen bei uns konnten nur von außen erzeugt werden, durch Bomben oder
Bombendrohungen. Falsch.
Anhand der Katastrophe in Duisburg muss die Gesellschaft nun verhandeln,
wie sie nicht nur technisch mit Massen umgeht. Denn die hedonistische Masse
bildet zweifellos auch ein verdrängtes moralisches Problem. Zunächst
mussten ja die Bilder schockieren, nach denen die Leute weitertanzten und
feierten und Kasperiaden vor der Kamera aufführten, ganz nah am Unfallort.
Wir wurden besänftigt: Man habe das Fest weitergehen lassen, um weitere
Panik zu verhindern. Doch die Gleichzeitigkeit von Katastrophe und
besinnungslosem "Spaß" ist so nicht wirklich zu beschreiben. An die
fürsorgliche Weiterbedröhnung der hedonistischen Masse jenseits ihrer
Katastrophe mag man nicht vollständig glauben. Erinnern wir uns, es ist
lange her, an den Bombenanschlag auf das Münchner Oktoberfest durch einen
Neonazi. Auch im Angesicht der Toten und zerfetzten Leiber ließ sich die
hedonistische Masse nicht auflösen, die Einzelnen nicht davon abhalten,
sich weiter zu amüsieren.
Unser schrecklichster Albtraum
Eine hedonistische Masse ist bis zu einem gewissen Grad gegen die
Wahrnehmung der Katastrophe immun (damals musste auch Mick Jagger, mehr
oder weniger überzeugend, weitermachen, weil die Veranstalter eine noch
größere Katastrophe als einen einzelnen Mord fürchten mussten). Als Masse
der Hedonisten erscheint die hedonistische Masse die Erfüllung unserer
schrecklichsten Albträume; noch mehr als vor ihrer potenziell destruktiven
Kraft fürchten wir uns vor ihrer Gefühllosigkeit. Erst als einzelner kann
der Mensch wieder trauern und wahrnehmen. Zurück bleibt eine andere Panik,
die Panik vor der Masse selbst.
Eine Massenkatastrophe ist immer auch eine moralische Katastrophe:
Menschen, die andere Menschen tottrampeln, zerquetschen, in die Tiefe
stürzen, teils weil sie nicht anders können, teils um selbst zu überleben.
Nichts bleibt da von der negativen Erhabenheit der Anschläge und
Naturkatastrophen; auch der uneigennützigste Einsatz von Freunden und
Helfern kann diese Bilder nicht übermalen von einer solchen körperlichen
und psychischen Hilflosigkeit: Die Nähe, die die hedonistische Masse
erzeugen und genießen will, macht Menschen zu Mordinstrumenten.
Die Erklärung, die Loveparade sei nun als Institution beendet, erscheint
erst einmal wie eine verständige Trauergeste. Etwas anderes wird danach
kommen, gleichgültig unter welchem Namen. Die hedonistische Masse wächst
vom Rand ins Zentrum der Gesellschaft des konformen, konsumistischen,
kontrolliert-chaotischen Spektakels. Dabei geht sie so oder so zugrunde.
Zurück bleibt der Einzelne, einsamer und ratloser als je zuvor.
28 Jul 2010
## AUTOREN
Georg Seesslen
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