# taz.de -- Militärprozess in Guantanamo: Kindersoldat droht lebenslänglich | |
> Omar Khadrs soll einen US-Soldaten getötet haben. Das Geständnis wurde | |
> allerdings gewaltsam erpresst. Macht nichts, befand das | |
> US-Militärtribunal und eröffnet den Prozess. | |
Bild: Omar Khadr (links, mit weißem Gewand) bei der Anhörung vor dem US-Milit… | |
Geständnisse gelten. Auch wenn der Geständige ein schwer verletzter, von | |
allen verlassener 15-jähriger Junge war. Auch wenn es keinen Zweifel daran | |
gibt, dass er während der Verhöre im afghanischen Bagram gelegentlich mit | |
einer über sein Gesicht gestülpten undurchsichtigen Kapuze länger stehen | |
musste, mit den Händen über Kopf an zwei Zellenwände gefesselt. Auch wenn | |
er zu Verhörzwecken des Schlafes beraubt wurde. Und auch wenn er selbst von | |
angedrohten Gruppenverwaltigungen und anderen Misshandlungen berichtet. | |
Die Militärjustiz in Guantánamo hat sich davon nicht beeindrucken lassen. | |
Am Montag entschied sie - am Ende von monatelangen Anhörungen -, dass die | |
Geständnisse ausreichen und zulässig sind, um Omar Khadr den Prozess zu | |
machen. Der inzwischen 23-Jährige ist als Gefangener erwachsen geworden. | |
Nachdem er von zwei Schussverletzungen genesen war und trotz Bombensplitter | |
eines seiner Augen wieder funktionierte, hatte er in Guantánamo am | |
Unterricht teilnehmen können. Jetzt ist er wegen Mord, Verschwörung und | |
Spionage angeklagt. Das Militärgericht in Guantánamo wird von heute an über | |
ihn richten. Bei einer Verurteilung droht ihm Lebenslänglich. | |
Ob Omar Khadr an seinem eigenen Prozess teilnehmen wird, ist offen. Er hat | |
bis zuletzt versucht, diesen Prozess zu verhindern. Aber die "Einigung", | |
wie die Militärjustiz sie ihm vorgeschlagen hat - ein Schuldeingeständnis | |
seinerseits als Gegenleistung für eine niedrigere Strafe von "nur" fünf | |
weiteren Jahren Guantánamo -, hat er abgelehnt. Während der monatelangen | |
Anhörungen, bei denen es ausschließlich um sein weiteres Schicksal ging, | |
weigerte er sich immer wieder, seine Zelle zu verlassen. | |
An jenen Tagen, an denen er in den Gerichtssaal kam, führten zwei Soldaten | |
den vollbärtigen jungen Mann in einem wadenlangen weißen T-Shirt hinein. | |
Erst nachdem er auf dem Sessel neben seinen Verteidigern saß, nahmen sie | |
ihm die Fußfessel ab. Während der Anhörungen verbrachte Omar Khadr seine | |
Zeit im Gerichtssaal schweigend. Wirkte oft wie abwesend. Nur wenn er vom | |
Richter gedrängt wurde, reagierte er auf Fragen. In der Regel mit | |
Ein-Wort-Antworten. Sollte er zu seinem Prozess erscheinen, ist nicht | |
ausgeschlossen, dass er es weiterhin so handhaben wird. | |
Jugend im Kriegsgebiet | |
Als Jugendlicher und ganz junger Erwachsener verhielt Omar Khadr sich | |
anders. Da hat er ohne Probleme und ausführlich mit seinen Verhörern - von | |
denen manche aus den USA, andere aus Kanada stammten - gesprochen. Mehrere | |
Dutzend "special agents" - von denen die Militärjustiz nur eine Handvoll | |
ausgewählter Vertreter zu den Anhörungen in Guantánamo vorgeladen hat - | |
haben ihn verhört. Omar Khadr hat ihnen geholfen, ihr "Who's Who" der | |
al-Qaida zu vervollständigen. Die Verhörer sagten Namen und brachten | |
Fotoalben und Videos mit. Darauf waren die bärtigen Gesichter von Männern | |
zu sehen, die in der westlichen Welt als Schwerverbrecher galten. Für den | |
15-Jährigen waren viele davon so etwas wie Onkels und Großväter. | |
Es war der eigene Vater, der Omar Khadr, noch bevor er in den Stimmbruch | |
kam, aus seiner Geburtsstadt, dem kanadischen Toronto, mit nach Afghanistan | |
genommen und ihn in Kontakt mit Al-Qaida-Leuten gebracht hat. Mit ihnen | |
lernte der jugendliche Omar, Landstraßen zu überwachen und ausländische | |
Truppenbewegungen per Walkie-Talkie durchzugeben. Er lernte, Informationen | |
von einem Ort zum anderen zu bringen. Und er lernte, Sprengsätze zu bauen. | |
Omar Khadr verbrachte die Pubertät in dem Kriegsgebiet. Für seinen in | |
Ägypten geborenen Vater waren jene Jahre, während derer er mit der | |
"humanitären" Organisation "Health and Education Project" Aktivitäten von | |
al-Qaida finanzierte, schon fast das Ende. Im Herbst 2003 kam der Vater bei | |
einer Schießerei mit pakistanischen Soldaten ums Leben. Ein weiterer seiner | |
Söhne, der damals 14-jährige Karim, sitzt seither im Rollstuhl und ist - | |
mit der Mutter - nach Toronto zurückgekehrt. In Kanada sind die Khadrs - | |
Mutter und Schwester und weitere Brüder - als "Al-Qaida-Familie" | |
verschrien. Weder das Oberste Gericht noch der konservative Regierungschef | |
Stephen Harper haben das Geringste unternommen, um Omar Khadr aus | |
Guantánamo nach Hause zu holen. Er ist der einzige Angehörige eines | |
westlichen Staates, der noch in dem Gefangenenlager sitzt. | |
Was heute in Guantánamo beginnt, ist der erste Militärprozess der Ära | |
Obama. Und damit ein Ereignis, das nie hätte stattfinden sollen. Bei seinem | |
Amtsantritt im Januar 2009 hatte der neue US-Präsident feierlich | |
angekündigt, er werde das Gefangenenlager auf der US-Militärbasis in Kuba | |
schließen und die dort gefangen gehaltenen Männer vor Strafgerichte in den | |
USA stellen. Er gab sich - und dem für Guantánamo zuständigen Pentagon - | |
exakt ein Jahr Zeit für die Abwicklung von Guantánamo. | |
Eineinhalb Jahre danach ist kein Ende des Gefangenenlagers und kein Ende | |
der Militärjustiz in Sicht. Anders als zu Zeiten von Obamas Amtsvorgänger | |
George W. Bush - der das Lager wenige Monate nach den Attentaten vom 11. | |
September eröffnete - spricht heute in den USA kaum noch jemand von der | |
exterritorialen und von keiner zivilen Öffentlichkeit kontrollierten | |
Militärjustiz. Unter dem Präsidenten, der es abschaffen wollte, ist | |
Guantánamo zu einem Thema geworden, mit dem sich nur noch Insider befassen. | |
Und selbst sie glauben nicht mehr an ein Verschwinden des Lagers in | |
absehbarer Zeit. Alle wissen auch, dass ein Wahljahr wie dieses ein | |
ungünstiger Zeitpunkt ist, um öffentliche Gespräche über einen gerechten | |
und rechtsstaatlichen Umgang mit "Terroristen" zu führen. | |
Der Prozess gegen Omar Khadr wird das erste Verfahren gegen einen | |
Kindersoldaten, dem Taten aus einer Kriegssituation vorgeworfen werden. | |
Seit Ende des Zweiten Weltkrieges, als in Deutschland und Frankreich ein | |
paar jugendliche Nazis vor Gericht gestellt wurden, ist dergleichen nicht | |
mehr vorgekommen. Selbst in Sierra Leone und anderen afrikanischen Ländern, | |
wo Minderjährige massiv zu Kriegsdiensten missbraucht wurden, hat | |
anschließend niemand diese Kinder vor Gericht gestellt. Sie gelten als | |
Opfer. Nicht als Täter. Im Ausland hat es für Kritik gesorgt, dass die USA | |
in Guantánamo diese Regel brechen. | |
Doch die Militärrichter von Guantánamo hat das nicht beeindruckt. In ihren | |
am Montag abgeschlossenen Anhörungen haben sie die Frage der | |
strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Omar Khadr geklärt: Für sie war der | |
15-Jährige ein "reifer und intelligenter Junge". Einige "special agents", | |
die ihn in Afghanistan und in Guantánamo verhört haben, beschreiben den | |
Gefangenen jener Jahre als "happy". Als "kooperativ". Und sie beschreiben | |
auch einen Jungen, der stolz auf das war, was er getan hat. | |
In den acht Jahren seiner Gefangenschaft - mehr als ein Drittel seines | |
Lebens - hat Omar Khadr sich verändert. Ein Video zeigt einen fröhlichen | |
Jungen, der gerade erst in Afghanistan angekommen ist, beim Bombenbauen. | |
Direkt neben den tödlichen Waffen ist ein Teddybär zu sehen. | |
Die Handgranate | |
Am 27. Juli 2002 kommt es zu dem Gefecht mit US-Soldaten, das Omar Khadr | |
beinahe das Leben gekostet hätte. Laut seiner Aussage ist das Haus in | |
Afghanistan nach vier Stunden ein Trümmerhaufen. Die drei jungen Männer, | |
mit denen sich Omar Khadr dort aufhielt, sind tot. Zwei sind aus der Luft | |
erschossen worden. Der Dritte soll, als er bereits schwer verletzt war, aus | |
unmittelbarer Nähe getötet worden sein. Omar Khadr hat zwei Einschüsse im | |
Oberkörper. | |
Er hat nie zuvor eine Handgranate benutzt. Doch in dem Trümmerhaufen sieht | |
er eine. Nimmt sie. Und wirft sie, ohne sehen zu können, worauf er zielt, | |
hinter sich. Die Granate fliegt über die Reste einer Mauer. Sie trifft den | |
US-Soldaten Christopher Speer. Der 29-jährige Soldat stirbt am 6. August an | |
seinen Verletzungen. | |
Seine Witwe ist zu dem Prozess in Guantánamo eingeladen. Als Zivilistin | |
wird sie in dem Gerichtssaal voller Uniformierter ziemlich allein sein. | |
Angehörige von Khadr werden nicht kommen. Seit seiner Gefangennahme hat er | |
seine Verwandten nicht mehr gesehen. | |
Von dem Gefecht gibt es keine Bilder. Der einzige Beleg für Omar Khadrs | |
Verantwortung ist sein eigenes Geständnis - das er inzwischen | |
eidesstattlich widerrufen hat. | |
In den Anfängen seiner Gefangenschaft hatte Omar Khadr sich von seiner | |
Jugend bei al-Qaida distanziert. Er sagte, er verdanke sein Überleben den | |
USA und wolle nach Kanada zurück, um Arzt zu werden. Inzwischen schmiedet | |
er, sagen die Verteidiger, keine Lebenspläne mehr. | |
11 Aug 2010 | |
## AUTOREN | |
Dorothea Hahn | |
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