# taz.de -- Giftgaskatastrophe von Bhopal: Die unendliche Katastrophe | |
> Nach wie vor sterben Menschen an den Folgen der Giftgaskatastrophe von | |
> Bhopal, die Opfer erhalten kaum Entschädigung. Milde Urteile gegen | |
> Manager. | |
Bild: Ein Opfer der Bhopal-Katastrophe bei einer Demonstration. | |
Shamshad Begom hat Tränen in den Augen. Sie hat ihr muslimisches Kopftuch | |
abgelegt, ihre langen Haare frei gemacht, eine alte silberne Aluminiumkiste | |
hervorgekramt und daraus alte Fotos und Dokumente entnommen, die jetzt vor | |
ihr ausgebreitet auf dem blankgeputzten Steinfußboden ihrer kleinen | |
Wellblechhütte liegen. Begom erzählt dabei eine der traurigsten | |
Geschichten, die es heute auf der Welt zu erzählen gibt. | |
Es ist die Geschichte von der Giftgaskatastrophe in Bhopal, die Geschichte | |
einer unendlichen Katastrophe, der sich seit 25 Jahren mit jedem Tag ein | |
neues Kapital hinzufügt. Sie handelt von einem der größten | |
Wirtschaftsverbrechen aller Zeiten: Bisher 22.150 Tote, und jeden Monat | |
kommen zehn dazu, sagen Nichtregierungsorganisationen. Offiziell gibt es | |
800.000 Giftgasopfer, von denen 150.000 chronisch Kranke um ihr Leben | |
kämpfen. | |
Die Geschichte beginnt in der Nacht zum 3. Dezember 1984. "Wer verbrennt | |
all die Chilis?", fragte Begoms Mann in dieser Nacht. Da hatte sich die | |
Giftgaswolke aus der nahen Pestizidfabrik des US-Konzerns Union Carbide | |
schon über Begoms Hütte gelegt. Um neun Uhr morgens erstickte ihre | |
Schwiegermutter an dem Giftgas, um elf Uhr ihr fünfjähriger Sohn. | |
"Aufgequollene Augen, verzerrtes Gesicht", so beschreibt die Mutter die | |
letzte Erinnerung an ihren einzigen Sohn. Vor ihr liegen die Bilder des | |
Kindes, daneben Aufnahmen ihres Mannes, der zwanzig Jahre später ebenfalls | |
an den Folgen der Katastrophe starb. Außerdem Arztrechnungen, die nie | |
erstattet wurden, Petitionen der Giftgasopfer, die nie gehört wurden. Begom | |
hat allen Grund zum Weinen. | |
2,50 Euro Witwenpension | |
Sie muss mit ihren Problemen allein zurechtkommen. Sie zeigt ihr | |
Pensionsbüchlein. Jeden Monat bekommt sie da einen Stempel hinein - und 150 | |
Rupien, das macht umgerechnet 2,50 Euro monatliche Witwenpension. Den Rest | |
fürs Überleben muss sie mit Schneiderarbeiten verdienen. | |
Wie konnte das geschehen? Warum leben die Giftgasopfer der "größten | |
Industriekatastrophe der Geschichte" (so titelte der Spiegel 1984) ohne | |
jegliche nennenswerte Hilfe? Warum sterben sie immer noch reihenweise, ohne | |
dass jemand Notiz davon nimmt? | |
Bhopal war eine neue Dimension von Verbrechen und Katastrophe - wie | |
Hiroshima, wie Tschernobyl. In Japan avancierte der Verband der | |
Atombombenopfer, Gensuikin, nach dem Krieg zu einer weltweit geachteten | |
Organisation der Friedensbewegung. Um die Opfer von Tschernobyl kümmern | |
sich heute allein in Deutschland noch zahlreiche Bürgervereine. | |
Verantwortlich für Hiroshima und Tschernobyl war staatliche Atompolitik. | |
Viele Menschen, auch außerhalb der betroffenen Länder, fühlten sich | |
mitverantwortlich. | |
Verantwortlich für Bhopal aber war die Privatindustrie: Union Carbide. Das | |
wissen auch die Betroffenen. In ihrer Hütte hält Begom ein Bild des | |
ehemaligen Konzernchefs von Union Carbide, Warren Anderson, in den Händen. | |
Anderson lebt heute unbehelligt in den USA. "Er sollte strengstens bestraft | |
werden", sagt Begom. Sie hat gehört, dass die Opfer der New Yorker | |
Terroranschläge vom 11. September 2001 viele tausend Dollar Entschädigung | |
erhalten haben. "Nach amerikanischen Maßstäben behandelt man uns wie | |
Aussätzige", sagt Begom. Doch sie will das nicht auf sich sitzen lassen. | |
"Wir überleben nur, weil wir Gerechtigkeit wollen." | |
Seit einem Vierteljahrhundert wartet sie auf die Gerechtigkeit des | |
Gesetzbuchs. Doch die Justiz ließ sich Zeit. Immer wieder intervenierte die | |
indische Politik in dem jahrzehntelangen Prozess gegen acht Manager von | |
Union Carbide, darunter Anderson. Delhi will in der Sache bis heute die | |
ausländischen Investitionen in Indien schützen. Die Regierung hat Sorge, | |
dass harte Urteile im Fall Bhopal zukünftige Investoren abschrecken | |
könnten. Obwohl oder gerade weil Indien heute einer der größten | |
Empfängerstaaten für ausländische Direktinvestitionen ist. Alle | |
Verzögerungstaktiken aber konnten am Ende ein Urteil der Richter nicht | |
verhindern. | |
Gift im Brunnenwasser | |
Am 7. Juni dieses Jahres war es so weit. Begom und ihre kleine | |
Frauengruppe, in der sie mit anderen Giftgasopfern aktiv ist, planen an | |
diesem Tag extra keine Proteste, um den Richtern nicht noch einen weiteren | |
Grund für einen Aufschub zu geben. Das Gericht entscheidet wie erwartet: | |
Die sieben indischen Angeklagten sind schuldig. Sie erhalten zwei Jahre | |
Haft wegen unbeabsichtigter Tötung, wie nach einem tödlichen | |
Verkehrsunfall. Ein strengeres Urteil ist aufgrund von politisch | |
beeinflussten Vorgaben des Obersten Gerichtshofs gar nicht möglich. Alle | |
Angeklagten kommen nach Antrag auf Revision und Hinterlegung einer Kaution | |
wieder frei. Begom aber ist trotzdem froh, dass die Justiz erstmals nach 25 | |
Jahren Schuldige festgestellt hat. Über den Angeklagten Anderson allerdings | |
schweigen die Richter. Der indische Justizminister rechtfertigt das damit, | |
dass Anderson "Gesetzesflüchtling" sei. Worauf die Opposition in Delhi die | |
Regierung auffordert, von den USA die Auslieferung des heute 89-jährigen | |
Anderson zu verlangen. Premierminister Manmohan Singh gerät dabei unter | |
öffentlichen Druck und stimmt Anfang Juli zu. Wann und wie er Andersons | |
Auslieferung erreichen wolle, verrät Singh aber nicht. | |
"Es gibt einen Schimmer Hoffnung. Die Zentralregierung hat die Dinge in der | |
Hand", sagt Begom in ihrer Hütte. Plötzlich dringt fröhlicher Kinderlärm | |
herein. Draußen in der engen Gasse, die zu Begoms Hütte führt, spielen die | |
Nachbarskinder mit einem Wasserschlauch und spritzen sich gegenseitig nass. | |
Große Mädchen in bunten Saris kommen hinzu, nehmen den Kleinen den Schlauch | |
ab und spielen das gleiche Spiel. Bald sind auch sie durchnässt und lachen | |
dabei herzlich. Können wenigstens Kinder und Enkel der Giftgasopfer ein | |
normales Leben führen? | |
Daran ist nicht zu denken. Nach kurzer Zeit ist das Gassenspiel vorbei. | |
"Alle zwei Tage gibt es für eine halbe Stunde fließend Wasser", erklärt | |
Begom das kurze Vergnügen der Kinder. Der große Wassermangel in der Nähe | |
der Fabrik aber hat in JP Nagar eine zweite Opfergeneration geschaffen. Die | |
Bewohner des Viertels haben über Jahre Brunnenwasser getrunken - und nicht | |
gewusst, dass die giftigen Rückstände der bis heute nicht entsorgten | |
Pestizidfabrik von nebenan ins Grundwasser sickern. Heute wissen es die | |
Bewohner besser - und trinken trotzdem weiter Brunnenwasser. "Wir haben | |
nichts anderes", sagt eine arme Nachbarin Begoms. Manche haben etwas mehr | |
Geld und kaufen Wasser. | |
Aber in den meisten Familien in JP Nagar gibt es heute beide Krankheiten: | |
die vom Giftgas erzeugten, oft tödlichen Atem-, Schwindel-, und | |
Geisteserkrankungen, die medizinisch nie richtig erforscht wurden. Und | |
Krebserkrankungen in Folge der Grundwasservergiftung. Wobei sich besonders | |
Schwindel- und Geisteskrankheiten über Generationen vererben. "Ich habe | |
seit meiner Kindheit Schwindelanfälle und Kopfschmerzen", sagt die | |
26-jährige Anjum Panchal, älteste Tochter von Begoms Nachbarin. | |
Begoms Hütte trägt in ihrer Gasse die Nummer 3. In Hütte Nummer 16 klagt | |
die 45-jährige Aamna Bi über Erbrechen, Fieber und Kopfschmerzen seit 25 | |
Jahren. Sie hat drei behinderte Kinder. In Hütte Nummer 85 sagt der | |
ehemalige Tischler Majid Khan, er könne seit der Katastrophe nicht mehr | |
klar denken und sei seit 25 Jahren arbeitsunfähig. In Hütte Nummer 118 | |
zeigt die 29-jährige Farzana ihr geisteskrankes Kind. In Hütte 55 berichtet | |
der ehemalige Fabrikarbeiter Mohammed Rayees, 55, dass er und seine Söhne | |
unter Schwächeanfällen litten. Alle in der Familie hätten Atemprobleme. | |
Seine Frau zeigt eine entzündete Zunge und Flecken auf ihrer Haut. "Mein | |
Mund brennt seit dem Unfall", sagt die Frau. "Wenn alle krank sind, wie | |
kann es da Fortschritt geben?", fragt der 18-jährige Sohn Rayees'. | |
Aus der Erfahrung gelernt? | |
Niemand in Bhopal zweifelt an der nach wie vor dramatischen Lage der | |
Giftgasopfer in JP Nagar und anderen Vierteln in der Nähe der Fabrik. Auch | |
nicht die Privatindustrie. "Es gibt noch so viele Opfer", sagt Jacob Mani, | |
Bhopals erfolgreichster Firmenchef. Mani leitet in einem Außenbezirk das | |
größte Unternehmen der Stadt, den indischen Grafit-Elektroden-Hersteller | |
HEG. Unter seinen 900 Arbeiter befinden sich viele Giftgasopfer. Einige von | |
ihnen hat Mani schon in den Tagen nach der Katastrophe als Freiwilliger im | |
Krankenhaus verpflegt. Er hat sie, wenn irgendwie möglich, nachher im | |
Betrieb gehalten und HEG seit 1984 zum weltweit fünfgrößten Unternehmen | |
seiner Branche aufgebaut. "Die ganze Welt hat um die Giftgasopfer Rummel | |
gemacht. Doch was wurde getan: nichts!", sagt Mani. Die wenigen | |
Entschädigungszahlungen, die es in den 90er Jahren nach einem | |
außergerichtlichen Vergleich zwischen Union Carbide und der Regierung in | |
Delhi gab, lässt Mani nicht gelten. | |
Können die Opfer heute auf mehr hoffen? "Als Konsequenz der Ereignisse von | |
Bhopal entwickelte sich die chemische Industrie weiter und arbeitete das | |
Konzept des verantwortungsvollen Handelns aus", ließ kürzlich der | |
US-Chemieriese Dow Chemical verlauten, der im Jahr 2001 Union Carbide | |
aufkaufte. "Aus den tragischen Unfällen der Vergangenheit hat die | |
Chemieindustrie ihre Lehren gezogen", sagte vor einigen Jahren der damalige | |
BASF-Vize Eggert Voscherau - und meinte damit auch Bhopal. Tatsächlich weiß | |
heute jeder gute Chemie-Manager, wie viel seine Branche den Opfern von | |
Bhopal verdankt. | |
Für die Opfer getan aber haben sie alle nichts. Dabei ist es nicht zu spät. | |
Man kann die Zahlen ja auch so lesen: Von 800.000 Opfern haben knapp | |
778.000 überlebt. Sie fordern alle, sie brauchen alle Hilfe. Auch Begom. | |
"Meine Stimme ist leise, aber eines Tages wird die Welt sie erhören", sagt | |
die Witwe. | |
13 Aug 2010 | |
## AUTOREN | |
Georg Blume | |
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