# taz.de -- Amerikanischer Traum in der Krise: "In der Mitte gibt es nichts meh… | |
> Sowohl kulturell als auch geografisch spiegelt der Mittlere Westen die | |
> Mitte des Landes. Der Mythos vom ehrlichen Amerika wird aber zunehmend | |
> von Krise und Globalisierung bedroht. | |
Bild: Der Mittlere Westen ist nach wie vor die Kornkammer der USA, doch die Lan… | |
taz: Herr Longworth, Sie sind in Boone aufgewachsen, einer Kleinstadt | |
mitten in Iowa. Wie hat sich diese Stadt in den letzten Jahrzehnten | |
verändert? | |
Richard C. Longworth: Ein paar alte Geschäfte haben geschlossen, die | |
Hauptstraße ist etwas schäbiger. Seltsamerweise sieht die Stadt sonst noch | |
fast genauso aus wie früher, obwohl sich ihr Charakter stark verändert hat. | |
Inwiefern? | |
In meiner Jugend war Boone eine Stadt, die vom Ackerbau und ihrer | |
Eisenbahnanbindung lebte. Die Menschen lebten in der Stadt, arbeiteten und | |
kauften dort ein - wie auf einer kleinen Insel. Heute ist die Eisenbahn | |
verschwunden, viele Farmen auch, dafür gibt es wenige sehr große. Boone ist | |
zu einer Wohn- und Schlafstadt für benachbarte Großstädte wie Des Moines | |
geworden. | |
Die Stadt liegt im Mittleren Westen, einer der wichtigsten Wirtschafts- und | |
Ackerbauregionen der USA. Ist sie ein gutes Beispiel für den dramatischen | |
Wandel, den die Region durchmacht? | |
Nur bis zu einem gewissen Grad. In Boone war kaum verarbeitende Industrie | |
ansässig, die Stadt hatte nicht viel zu verlieren. Ehemalige | |
Industriestädte leiden sehr viel mehr unter der Globalisierung und unter | |
der Wirtschaftskrise. Kleinstädte im Mittleren Westen müssen sich - wenn | |
sie zu weit weg von Großstädten liegen -, selbst neu erfinden - oder sie | |
erleben einen dramatischen Niedergang. Den meisten passiert Letzteres. | |
Was bedeutet es für die USA, wenn das Herz des Landes, das Heartland, | |
abstürzt? | |
Die Tatsache, dass Landwirtschaft und Schwerindustrie hier so stark von der | |
Globalisierung getroffen wurden und dass die Region dem Wettbewerb nicht | |
standhalten konnte, ist ein Warnsignal für die ganze Nation. Denn auch | |
andere Gegenden sind verwundbar: der Süden mit seiner Schwerindustrie, aber | |
auch Staaten wie Kalifornien, in denen Hightech-Firmen siedeln. | |
Warum ist der Mittlere Westen nach wie vor so wichtig für die USA? Mais | |
oder Getreide sind auf dem Weltmarkt günstig zu haben. | |
Erstens: Der Mittlere Westen ist nach wie vor der Brotkorb der USA, hier | |
werden riesige Mengen Mais, Getreide, Sojabohnen oder Fleisch produziert. | |
Zweitens: Es ist ein Ort mit Geschichte. Hier hat die industrielle | |
Revolution der USA begonnen, hier hat Henry Ford die Fließbandfertigung von | |
Autos erfunden. | |
Und drittens ist der Mittlere Westen für viele Amerikaner etwas Besonderes, | |
oder? | |
Richtig, er liegt eben in jeder Hinsicht in der Mitte Amerikas, sowohl | |
geografisch als auch kulturell. Hingabe, Ehrlichkeit, harte Arbeit, das | |
sind Werte, auf die Amerikaner stolz sind, und sie kommen von hier. Viele | |
denken, wenn das Herz des Landes Probleme hat, ist die Lage ernst. | |
Was sind die größten Probleme? | |
Von Ausnahmen wie Chicago oder Minneapolis abgesehen kämpfen fast alle | |
großen Städte mit den Folgen der Globalisierung. St. Louis, Milwaukee, | |
Cleveland oder Detroit sind nur noch halb so groß wie früher. Hier wurden | |
Dinge produziert, Autos, Stahl und anderes, in industriellen | |
Fertigungslinien. Die Arbeiter waren schlecht ausgebildet, haben aber hart | |
gearbeitet und konnten sich so einen Lebensstil der Mittelklasse leisten. | |
Diese Jobs sind heute fast alle verschwunden, die Menschen sind aber noch | |
da. Und es fällt ihnen schwer einzusehen, dass neue Industrien und andere | |
Bildung gebraucht werden. | |
Die Arbeitslosenquote liegt im Mittleren Westen bei 9,5 Prozent, wie im | |
Rest der USA auch. Ist das nicht ein Zeichen dafür, dass der Mittlere | |
Westen gar nicht so schlecht dasteht? | |
Es kommt nicht nur auf die Zahl der Jobs an, sondern auch auf ihre | |
Struktur. Eine Wissenschaftlerin der Ohio State University hat den | |
Arbeitsmarkt der Region untersucht. Er ähnelt einer Eieruhr. Am oberen Ende | |
gibt es viele, sehr gute Arbeitsplätze, vor allem in Städten wie Chicago. | |
Auch am unteren Ende gibt es viele, sehr schlechte Jobs, die oft von | |
Immigranten erledigt werden. In der Mitte gibt es nichts mehr. | |
Wie gut stellt sich die Region auf die Folgen von Globalisierung und | |
Wirtschaftskrise ein? | |
Bisher schlecht. Eines hat sich aber in den letzten Jahren geändert: Die | |
Menschen realisieren, dass die alten Wege nicht mehr funktionieren. Das ist | |
immerhin Schritt Nummer eins. | |
Und andere Schritte? | |
Die Region muss sich zum Beispiel viel stärker auf grüne Industrien | |
konzentrieren. Es gibt ein enormes Wissen über Produktion und Fertigung in | |
der Region, dies ließe sich auch für Windräder und Solarzellen nutzen. | |
Ein großer Teil der Maisernte wird bereits für Ethanol genutzt, also für | |
Biosprit. Denken Sie an so etwas? | |
Hinter der Ethanolproduktion stecken vor allem politische Gründe. Weil | |
Menschen Arbeit brauchen und Farmer Mais verkaufen wollen, fördert sie die | |
Regierung mit Subventionen und versucht, Ethanol aus Brasilien aus dem | |
Markt zu halten. Ohne diesen politischen Druck wäre Ethanol erledigt. Viele | |
Experten halten Ethanol für eine Luftnummer, es verbraucht bei der | |
Produktion so viel Energie wie es bereitstellt. | |
Was sind dann Wege aus der Misere? | |
Das Bildungssystem muss dringend reformiert werden, um mehr Menschen besser | |
zu qualifizieren. Es gibt in den USA kein kombiniertes Schul- und | |
Berufsausbildungswesen wie in Deutschland, aber so genannte Community | |
Colleges könnten als Ersatz funktionieren. Highschools und örtliche | |
Colleges müssten enger zusammenarbeiten, Universitäten müssten lernen, ihre | |
Ideen stärker zu vermarkten. Und wir müssen Risikokapital in die Gegend | |
locken. | |
Wie das? Wer investiert in Boone, Iowa? | |
In den meisten dieser Kleinstädte gibt es ein oder zwei Familien, die reich | |
sind. Die Eltern sind alt. Wenn sie sterben, wandert das Geld nach New | |
York, wo die Kinder leben. Dieser Wohlstands-Transfer ist ein großes | |
Problem. Zumindest mit einem Teil dieses Geldes ließen sich Stiftungen | |
gründen, um die lokale Wirtschaft zu unterstützen. | |
Gibt es dafür Beispiele? | |
In dem Ort Kalamazoo in Michigan existiert eine von Familien gegründete | |
Stiftung. Sie zahlt die volle College-Ausbildung jedes Schülers, der an der | |
Kalamazoo Highschool seinen Abschluss macht. Daraufhin sind sehr viele | |
Eltern in die Stadt gezogen. Und es gibt andere Ansätze. | |
Warum sollte man ausgerechnet in sterbenden Städten Schulen und | |
Universitäten mit viel Geld teurer und besser ausstatten? | |
Natürlich könnte man - strikt ökonomisch gedacht - in vielen Städten | |
einfach das Licht ausschalten. Aber politisch und humanistisch gedacht ist | |
das keine Option für eine Region, die überleben kann. Und Kindern die beste | |
Ausbildung zu geben, und diese später in einer neu strukturierten | |
Wirtschaft zu nutzen, ist der beste Weg der Städte zum Überleben. | |
Was denken Sie, wird der Mittlere Westen überleben? | |
Nun, ich habe Hoffnung. Es ist wie mit den Cubs, dem Baseball-Team von | |
Chicago - es sind liebenswerte Verlierer. Es ist hundert Jahre her, dass | |
sie eine Meisterschaft gewonnen haben. Aber wir in Chicago sagen: Nun, | |
jeder kann ein schlechtes Jahrhundert haben. | |
15 Aug 2010 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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