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# taz.de -- Autor Roland Seidl über Schule: "Der Gleichschritt ist das große …
> Schulen leiden unter der Methode "Gleichschritt": Alle das Gleiche in der
> gleichen Zeit. Eine Änderung der Lernkultur ist jedoch schwierig, sagt
> der Lehrer und Buchautor Roland Seidl.
Bild: Die Sophie-Scholl-Schule hat für ihre Konzept 2010 den Deutschen Schulpr…
Herr Seidl, Hamburgs Bürger haben sich klar gegen die Reform der
Grundschule ausgesprochen. Haben Sie sich getäuscht damit, dass ein
Totalumbau der Schulen nötig ist?
Roland Seidl: Die Bereitschaft zu einem radikalen Schnitt ist bei den
Menschen offenbar noch nicht da, das stimmt. Dennoch glaube ich fest daran,
dass es so nicht weitergehen kann. In unseren Schulen herrscht heute eine
Kultur des Drucks und der Ausgrenzung, mit der niemand zufrieden ist.
Warum wenden sich die Eltern dann gegen sachte, aber richtige
Modernisierungen wie in Hamburg?
Die Bürger dort haben sich meines Erachtens nicht gegen eine innere
Schulreform gewandt, sondern sie haben ihr Gymnasium beschützt. Wer heute
das Gymnasium angreift, der holt sich ein blaues Auge. Die Hamburger haben
sich dagegen gewehrt, dass man ihnen zwei Jahre Gymnasium wegnimmt. Das war
der Punkt. Sie wollten ihre Vorteile behalten.
Noch mal zurück zum Grundsätzlichen: Was läuft schief an den deutschen
Schulen?
Es herrscht zu viel Druck. Und das liegt in den Noten begründet. Wenn ein
Schüler im Leben weiterkommen will, braucht er gute Noten. Und die versucht
er mit möglichst geringem Aufwand zu bekommen. Daraus ergibt sich eine
grundsätzlich problematische Grundhaltung der Schüler und der Eltern, die
das Interesse an dem zu Lernenden in den Hintergrund und die Note in den
Vordergrund rückt.
Worin liegt das Missverständnis genau?
Die Leute denken, dass eine gute Schule eine harte Schule ist, in der von
der Gruppe viel verlangt wird. Und zwar von allen das Gleiche. Das große
Ziel ist, dass alle Schüler mitkommen, wie wir es gern sagen. "Hauptsache,
du kommst mit", predigen die Eltern ihrem Kind. Für viele wird es zu einer
Qual, sie kommen nur unter größter Mühe mit, und die Eltern wissen nicht,
was sie ihnen antun
Diese Methode hat über Jahrhunderte irgendwie funktioniert. Warum jetzt
nicht mehr?
Die Kinder haben sich geändert, aber die Schule ist gleich geblieben. Wir
haben in der ersten Klasse heute ein sehr weites Leistungsspektrum. Es gibt
Schüler, die können lesen, schreiben, rechnen. Aber es gibt welche, die
werden das auch nach drei Jahren noch nicht richtig können.
Was könnte man tun, um allen besser zu helfen?
Wir sollten die Grundschule viel flexibler gestalten. Man sollte sagen:
Jeder Grundschüler muss drei Jahre da sein, aber wer fünf Jahre braucht, um
sich gute Grundlagen für die weiterführende Schule zu erarbeiten, der
braucht eben fünf.
Und die Schüler, die nur drei Jahre da sind?
Es kommen Kinder in die Grundschule, die schon viel können. Warum sollen
die nicht Gas geben dürfen?
Ja, aber wie macht man das denn: Die Langsamen nehmen sich Zeit, die
schnelleren geben Gas - und trotzdem bleiben die Kids in einer Klasse?
Das ist die große Kunst und zugleich der Kern des neuen Lernens. Es geht
darum, die schwachen Kinder an die Inhalte heranzuführen und dennoch die,
die schon vieles können, nicht zu langweilen. Durch Lernen im Gleichschritt
gelingt das nicht, das ist klar. Denn der Gleichschritt ist das eigentliche
Übel unserer Schulen.
Warum?
Weil dabei vorprogrammiert ist, dass die einen Kinder das Interesse
verlieren und die andern hoffnungslos überfordert sind. Schon in der
Grundschule verlieren die Kinder so ihre Neugier. Mit Gleichschritt meine
ich nicht nur Frontalunterricht, sondern jede Unterrichtsform, die ein Ziel
setzt, das jeder zu einer bestimmten Zeit erreicht haben muss.
Kann es sein, dass sie das Gleichschrittthema zu wichtig nehmen?
Nein, das ist das Schlüsselproblem, bei dem unsere Didaktik und unsere
Schulformen zusammenspielen. Ich glaube sogar, dass unsere massiven
Disziplinprobleme aus der Überforderung kommen, die sich aus dem
Gleichschritt ergeben. Sehen Sie sich die Gymnasien an, die nehmen heute 40
bis 50 Prozent eines Jahrgangs auf. Aber für einen Gutteil einer
Gymnasialklasse ist es ganz schwer, bei den Rennpferden mitzukommen.
Also sollte man sie sitzenlassen?
Nein, das nicht! Die Methode muss sich ändern. Jeder soll in seiner
Geschwindigkeit lernen.
Manche Leute nennen das Kuschelpädagogik.
Ich weiß, genau darin liegt das Missverständnis. Man will die Spreu vom
Weizen trennen, also Kinder aussortieren. Die Leute finden das auch noch
gut, aber das ist falsch. Das können wir uns nicht mehr leisten. Jeder
einzelne soll an seine Grenze herangeführt werden, aber so, dass er es
bewältigen kann, also positiv, bestärkend. Wenn Sie das mit einer ganzen
Lerngruppe im Gleichschritt machen, dann brauchen Sie im übertragenen Sinne
die Peitsche, Druck. Das zermürbt. Wenn Sie es aber individuell machen,
dann stärkt es und bringt voran. Man hat Erfolg und nicht das Gefühl des
Scheiterns.
Wie wollen Sie diese Revolution des Lernens schaffen? Viele Lehrer wissen
noch nicht, was individuelles Lernen ist - und es scheint: Sie wollen es
auch gar nicht wissen.
Ich weiß, dass das eine große Aufgabe ist. Aber wir dürfen dieses Ziel
trotzdem nicht aus den Augen verlieren. Wir können nicht weitermachen mit
unserem Pseudo- und Bulimielernen, bei dem Schüler sinnlos irgendeinen
Stoff konsumieren, bis es ihnen an der Kante steht. In der Prüfung kotzen
sie aus - und vergessen danach alles wieder.
In Ihrem wütenden Buch "Reißt diese Schulen ein!" sprechen Sie von einer
"verdeckten Rebellion gegen das bestehende Schulsystem". Was meinen Sie
damit genau?
Es herrscht eine allgemeine Unzufriedenheit mit dem Schulsystem. Eine
Ablehnung, aus der viele Probleme entstehen: Schüler, die querschießen.
Eltern, die querschießen. Klagen über Kleinigkeiten. Vandalismus.
Sie nennen das "Schulbehinderungen", also Probleme, die durch die Schule
und nicht durch die Kinder ausgelöst werden.
Das dreigliedrige System fabriziert unser Schulversager weitgehend selbst.
Schüler werden aufgrund ihres Verhaltens oder ihres Lernumfelds, ihres
familiären Hintergrunds in die Hauptschule geschickt, auch wenn sie von
ihrer Intelligenz her das Gymnasium besuchen könnten. Ich habe andererseits
Kinder erlebt, bei denen Schwierigkeiten am Gymnasium vorherzusehen waren.
Eltern schicken ihre Kinder trotzdem dahin - und riskieren, dass sie
scheitern und in die Realschule absteigen. Manche scheitern dann erneut.
Sie kommen auf die Hauptschule, fühlen sich vollends als Versager und
verlassen die Schule schließlich ganz ohne Abschluss. Solche Karrieren
meine ich. Sie liegen nicht im Kind, sie werden durch das System
produziert.
Sie behaupten, Integrierte Gesamtschulen und Gemeinschaftsschulen
funktionierten anders als die gegliederten Schulformen. Wo liegt der
Unterschied?
In beiden Schulformen lernen die Kinder bis zur zehnten Klasse gemeinsam.
In Gemeinschaftsschulen arbeiten sie außerdem individualisiert. Dadurch
fällt der Stress weg, eventuell einen Kurs nicht zu schaffen. An
Integrierten Gesamtschulen gibt es diesen Stress noch. Denn da lernen die
Schüler in ihren Kursen noch im Gleichschritt und sind auch von der
Abstufung in eine niedrigere Schulform bedroht - auch wenn sie leichter
wieder in die höhere aufrücken können.
Sie gebrauchen gerne den Begriff "nachhaltiges Lernen". Was verstehen Sie
darunter?
Uns Lehrer frustriert maßlos, dass man mit Schülern einen bestimmten Stoff
durchnimmt. Ein Vierteljahr später will man auf den Stoff zurückgreifen und
greift ins Leere. Dann frage ich mich doch: Entschuldigung, wofür habe ich
denn jetzt gearbeitet? Nachhaltig ist Lernen dann, wenn das Gelernte auch
nach einem Jahr noch da ist.
Herr Seidl, wie bekommt man die Schulen dazu, sich zu verändern?
Die heutigen Vorzeigeschulen sind häufig Schulen, die am Boden waren. Die
Schüler liefen ihnen weg, sie standen vor der Schließung. Dann haben sich
die Betroffenen zusammengesetzt. Von diesem Moment an ging in der Schule
ein radikales Umdenken los. Die Veränderung kam also von innen. Das
Entscheidende dürfte die innere Haltung der Betroffenen sein. Es ist sehr
problematisch, so etwas von oben zu verordnen. Denn Verordnetes wird
unterlaufen.
Wie kann man das Schulsystem trotzdem verändern?
Ich sehe den Weg zu anderen Schulformen darin, dass man diese in den
einzelnen Schulen vor Ort vorlebt. Wir sollten Gemeinschaftsschulen
einrichten, in denen eine andere Lernkultur eingeübt wird. Dort kann man
zeigen, wie Kinder ohne Druck lernen, trotzdem das Ziel erreichen - und
sogar besser sind.
17 Aug 2010
## AUTOREN
Christian Füller
Anne Nill
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