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# taz.de -- Schulreformen im Überblick: Bauplatz der Republik
> Von Kiel bis München wird munter vor- und zurückreformiert. Die
> Hauptschule ist am Ende, Gymnasien bleiben unangetastet. Ein Spaziergang
> über die Baustelle Bildungsrepublik.
Bild: Bastelort Schule: Jedes Bundesland schneidet sich seine Reformen zurecht.
## Kehrtwende in Kiel
Als "Chaosminister" mit Pickelhaube verhöhnt die Gewerkschaft GEW in
Schleswig-Holstein ihren Bildungsminister Ekkehard Klug (FDP). Nur ein
Symptom für die Unruhe, die entstanden ist, seit die schwarz-gelbe
Koalition in Kiel die Regierung übernommen hat. Selbst der
Philologenverband krittelt, weil der Minister ein Nebeneinander von acht-
und neunjährigen Gymnasien durchsetzen will.
Dabei hatte Ministerpräsident Peter Harry Carstensen (CDU) vor der Wahl
versprochen, an der schwarz-roten Schulreform nicht zu rütteln. Denn
Schleswig-Holstein war ja der erste und entschiedenste Post-Pisa-Reformer.
CDU und SPD ersetzten schon 2006 das dreigliedrige System durch
Gemeinschafts- und Regionalschulen plus Gymnasium. Die Gemeinschaftsschulen
lassen ihre Schüler gemeinsam lernen und alle Abschlüsse einschließlich
Abitur anbieten. Regionalschulen vereinen Haupt- und Realschulen, trennen
ihre Schüler aber beim Unterricht weiter. Der Trend geht zur
Gemeinschaftsschule, die heute die stärkste weiterführende Schulart im Land
ist: Insgesamt sind es heute 134 Gemeinschaftsschulen - im Vergleich zu 66
Regionalschulen und 100 Gymnasien.
Eine neuerliche Schulreform schwächt nun mit wenigen, aber wirksamen Sätzen
die Gemeinschaftsschule: So soll sie zwei ihrer Kennzeichen verlieren:
erstens das gemeinsame und zugleich individuelle Lernen. Und zweitens will
das Land es Gemeinschaftsschulen erschweren, eine gymnasiale Oberstufe
einzurichten. Damit raubt man der Gemeinschaftsschule ihre Idee - neues
Lernen und für jeden die Chance aufs Abi. Der Landtag berät das Gesetz im
September, 2011 soll es in Kraft treten.
ESTHER GEISSLINGER
## Patt in Hamburg
Die sechsjährige Primarschule in Hamburg ist bekanntlich an einem
Volksentscheid gescheitert. Doch die Idee ist nicht ganz vom Tisch. 23
"Starter"-Grundschulen beginnen in diesen Tagen mit 5. Klassen. Die
Initiative der Primarschulgegner forderte die Eltern auf, ihre Kinder
abzumelden, und drohte mit Klage. Doch die beeindruckt das bisher kaum. Es
gibt offenbar nur wenige Abmeldungen - und sogar Neuanmeldungen kommen
hinzu.
Die Hamburger Schulbehörde will den Eltern "Vertrauensschutz" gewähren. Das
heißt: Weil ihre Kinder angemeldet sind, dürfen sie einmalig die Klassen 5
und 6 an der Primarschule verbringen. Offen ist, ob einzelne Schulen einen
Schulversuch beantragen. In der Politik ist das eine heiße Kartoffel.
Selbst die grüne Schulsenatorin Christa Goetsch bekräftigt,
bildungspolitisch habe die Primarschule "in den nächsten Jahren keine
Perspektive".
Die anderen Teile der Hamburger Schulreform blieben ohnehin unangetastet:
So wird jetzt das Sitzenbleiben abgeschafft und durch individuelle
Förderung ersetzt. Auch das sogenannte Abschulen fällt weg: Gymnasien
müssen die Kinder ab Klasse 7 bis Ende der Mittelstufe behalten. Und kein
Kind muss mehr auf die Sonderschule, weil es einen Rechtsanspruch auf
Regelschule gibt. Auf diese Weise entstehen gerade viele neue
Integrationsstandorte, darunter erstmals auch Gymnasien.
Unstrittig in Hamburg ist auch das Zweisäulenmodell: Neben den Gymnasien
gibt es jetzt nur noch die Stadtteilschule, auf der Kinder auch das Abitur
erreichen können. Die Hamburger Reform ähnelt damit übrigens der in Bremen
bis ins Detail: Nur dass die Stadteilschulen dort Oberschulen heißen.
KAIJA KUTTER
## Raumstation Berlin
Gleich am ersten Tag war in der Sekundarschule an der Skalitzer Straße in
Berlin-Kreuzberg einiges anders: Viel mehr Mädchen als sonst unter den
neuen Siebtklässlern, staunte der Schulleiter. An der bisherigen
Hauptschule waren die im Durchschnitt erfolgreicheren Mädchen bislang eine
Mangelerscheinung - und ebenso Eltern, die die Schullaufbahn ihrer Kinder
interessiert. Dass die Hauptschule als Sammelbecken der schlechtesten
Schüler verschwinden muss, war in Berlin spätestens mit den ersten
Pisa-Ergebnissen klar. Dass sie bei Lerntests ständig auf hintersten
Plätzen landete, erleichterte der Hauptstadt die Schulreform.
Die ist nur mittelradikal: Haupt-, Real- und Gesamtschulen werden zur neuen
Integrierten Sekundarschule, die abgekürzt wie die Raumstation heißt: ISS.
Die ISS soll mit kleineren Klassenfrequenzen, individueller Förderung und
dem "Dualen Lernen" als Angebot an eher praktisch begabte Kinder die Zahl
erfolgreicher Abschlüsse steigern. Das Gymnasium mit dem Abitur nach 12
Jahren bleibt unangetastet.
Doch auch an der Sekundarschule soll man Abitur machen können: Nach 13
Schuljahren, entweder an einer schuleigenen Oberstufe oder einem der
dreißig Berliner Oberstufenzentren. In der Hauptstadt gibt es übrigens auch
noch neue Gemeinschaftsschulen: Sie gehen von Klasse eins bis 13, dürfen
keine äußere Leistungsdifferenzierung vornehmen und vergeben im Idealfall
das Abi.
Streit gab es beim Zugang auf Oberschulen, denn die sollen sich einen
Großteil ihrer SchülerInnen selbst aussuchen dürfen, übernachgefragte
Schulen müssen 30 Prozent ihrer Plätze verlosen. Für den Erhalt der
Hauptschulen war nur die CDU.
ALKE WIERTH
## Osten: Hü und hott
In Thüringen starten ab September sechs Schulen als Gemeinschaftsschulen.
Hier lernen Kinder ab Klasse 1 bis 8 gemeinsam. Weitere 40 Schulen haben
Interesse signalisiert. Laut Umfragen sind die Thüringer mehrheitlich für
die längere gemeinsame Schulzeit. Schule und Gemeinde entscheiden selbst,
ob sie eine Gemeinschaftsschule wollen.
Die SPD und Bildungsminister Christoph Matschie setzen mit den
Gemeinschaftsschulen ein Versprechen aus dem Wahlkampf um. Im
Koalitionsvertrag mit der CDU ist festgelegt, dass die Gemeinschaftsschulen
reguläre Schulen sind, also nicht probeweise wie in Sachsen laufen. Der
Landtag soll das im Herbst beschließen, doch die CDU begehrt auf. Sie will
nun auch die Oberschule und damit die bisherige Auslese nach Klasse vier
per Gesetz stärken. Ein Schulstreit dräut.
Mit Beginn dieses Schuljahres ist die Gemeinschaftsschule in Sachsen ein
Auslaufmodell. So legt es der Koalitionsvertrag von CDU und FDP fest,
obschon die Liberalen einst für längeres gemeinsames Lernen eingetreten
waren. Die neun sächsischen Gemeinschaftsschulen sind ein Überbleibsel der
CDU-SPD-Koalition. Die Schüler dürfen aber ihre Schulzeit zu den bisherigen
Konditionen beenden.
Mit ähnlichen Lehrplänen an Gymnasium und Mittelschule in der
Orientierungsstufe 5 und 6 sollen Schüler nun leichter von der einen zur
anderen Schulart wechseln können. Sachsens zweigliedriges Schulsystem wird
- zumindest in der Theorie - durchlässiger. Mittelschulen werden verbal zur
Oberschule aufgewertet. Dort soll es aber auch Elemente der
Gemeinschaftsschule geben, wie bessere individuelle Förderung in gemischten
Klassen.
ANNA LEHMANN / MICHAEL BARTSCH
## Saarstreit um die 5.
Eigentlich müsste die von der Jamaika-Koalition vereinbarte neue
Schulpolitik längst Realität sein. Die ist jedoch zum neuen Schuljahr immer
noch umstritten - besonders die Einführung eines 5. Grundschuljahres. Die
Verlängerung der Grundschule war ohnehin ein seltsamer Kompromiss. Nach dem
Volksentscheid in Hamburg stößt sie auf verschärften Widerstand von Eltern-
und Lehrerverbänden, aber auch von Frei- und Christdemokraten im Lande. Und
das trotz "Bestandsgarantie" für die Gymnasien.
Bei der oppositionellen SPD befürwortet man zwar generell das längere
gemeinsame Lernen, hält aber das 5. Grundschuljahr für einen "faulen
Kompromiss". Die SPD wird im Landtag von der Koalition gebraucht, wenn sie
ihre avisierte neue Bildungspolitik wie angekündigt noch im laufenden
Schuljahr umsetzen will. Dafür muss nämlich die Landesverfassung geändert
werden, in der das dreigliedrige Schulsystem festgeschrieben ist.
Bei SPD und Linken wird denn auch längst über eine Volksabstimmung à la
Hamburg über die umstrittene Einführung des 5. Grundschuljahres diskutiert.
Doch auch dafür müsste vorher die Verfassung, die kein Plebiszit vorsieht,
mit einer Zweidrittelmehrheit im Landtag geändert werden.
Bildungsminister Klaus Kessler (Grüne) will jetzt auf
Informationsveranstaltungen landesweit für die Schulpolitik von "Jamaika"
werben und Ängste davor abbauen. Allerdings geht auch die GEW, deren Chef
Kessler einmal war, inzwischen auf Distanz und spricht von Klein-Klein und
einem Irrweg. In den Schulen, so die Konklusion des Philologenverbandes,
herrsche aktuell "nur noch Unruhe und Ungewissheit".
KLAUS-PETER KLINGELSCHMITT
## NRW tastet sich vor
Trotz Machtwechsel vor den Sommerferien - in Nordrhein-Westfalen bleibt am
30. August fast alles wie es war. Zunächst einmal. Einige Korrekturen an
der Politik der abgelösten schwarz-gelben Landesregierung haben SPD und
Grüne bereits auf den Weg gebracht. Mit der "kleinen Schulreform" sollen
Kopfnoten abgeschafft und die Schulkonferenz soll wieder drittelparitätisch
besetzt werden. Verbindliche Grundschulgutachten fallen weg. Beschlossen
wird das alles jedoch erst nach Schuljahresbeginn.
Eine große Schulreform plant Rot-Grün ohnehin nicht - aus Angst vor einem
"Schulkampf" wie in Hamburg. Das dreigliedrige Schulsystem soll nicht
abgeschafft, sondern ergänzt werden. Zu den bereits bestehenden
Integrierten Gesamtschulen sollen als weitere Alternative
"Gemeinschaftsschulen" treten.
Der zentrale Unterschied zur Gesamtschule: Wie es in diesen
Gemeinschaftsschulen nach dem gemeinsamen Unterricht in den Klassen 5 und 6
weitergeht, sollen Schule, Schulträger und Eltern gemeinsam entscheiden:
gemeinsam oder separat, beides ist möglich. Dazu will Schulministerin
Sylvia Löhrmann (Grüne) zunächst die Möglichkeit des geltenden
Schulgesetzes nutzen, besondere Schulmodelle zu genehmigen. Später soll
auch eine schulgesetzliche Verankerung der Gemeinschaftsschulen erfolgen.
Das Ziel laut Koalitionsvertrag: "in den nächsten fünf Jahren mindestens 30
Prozent der allgemeinbildenden Schulen in der Sekundarstufe I zu
Gemeinschaftsschulen umzuwandeln". Ob es in einer Stadt eine
Gemeinschaftsschule geben wird, soll die jeweilige Kommune entscheiden, und
welche Schulen konkret in sie integriert werden.
PASCAL BEUCKER
## Werkstatt Stuttgart
Mit einem neuen Konzept versucht das Land Baden-Württemberg am bisherigen
dreigliedrigen Schulsystem festzuhalten. Ab dem neuen Schuljahr soll die
Mehrzahl der Hauptschulen zu sogenannten Werkrealschulen umgebaut werden.
Die gab es zwar vereinzelt auch bisher schon. Nun wurde das Konzept jedoch
grundlegend überarbeitet und stärker berufsorientiert ausgerichtet.
Künftig sollen alle Haupt- und WerkrealschülerInnen bis zur neunten Klasse
gemeinsam unterrichtet werden. Dann können die SchülerInnen einen üblichen
Hauptschulabschluss machen. Sie haben aber auch bei entsprechendem
Notendurchschnitt und Empfehlung der Klassenlehrerkonferenz die
Möglichkeit, nach der zehnten Klasse die mittlere Reife zu machen.
Diejenigen, die dies anstreben, wählen in der achten und neunten Klasse ein
zusätzliches Wahlpflichtfach. In der zehnten Klasse erhalten sie neben den
allgemeinen Fächern an der Werkrealschule eine erste Grundbildung an den
Berufsschulen.
Mit der neuen Schulform versucht die Landesregierung auf den
Ansehensverlust der Hauptschule und den starken Rückgang der Schülerzahlen
zu reagieren. Kritiker sehen in der Werkrealschule lediglich eine
Reparaturwerkstatt, in der für die Hauptschule nur eine neuer Name erfunden
wurde - ohne Hauptschüler aus ihrer Isolation zu holen und besser zu
fördern. SPD und Grüne fordern ein Ende der Dreigliederung des
Schulsystems.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft sieht in dem neuen Schultyp gar
eine "bildungspolitische Sackgasse ohne pädagogische Verbesserung".
Langfristig müssten auch viele Werkrealschulen wegen Schülermangels
schließen.
NADINE MICHEL
## Bayern benennt um
Ganz Bayern hat Ferien, doch die Schulhausmeister haben zu tun: An rund 550
der knapp tausend Hauptschulen müssen neue Türschilder angebracht werden.
Sie heißen ab September nämlich Mittelschulen. Dort sollen Schüler künftig
auch den mittleren Schulabschluss ablegen können. Den Realschulabschluss
gibt es aber weiterhin, genauso wie die Realschulen. Wozu also der Aufwand?
Die CSU-FDP-Landesregierung versucht, das dreigliedrige Schulsystem zu
retten und die schrumpfenden Hauptschulen aufzuwerten. Die Mittelschulen,
verspricht Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU), böten verstärkte
Berufsorientierung und würden Schüler außerdem individuell und ganztags
fördern. Denn Spaenle und die CSU sind davon überzeugt, dass man
"passgenaue" Bildungsangebote entsprechend der "vielfältigen" Talente
bereithalten müsse - sprich genau drei Typen. Ganz ohne Zusammenlegungen
geht es dennoch nicht: Gut 500 Hauptschulen schließen sich mangels Schülern
im neuen Schuljahr zu 170 Mittelschulverbünden zusammen.
An 20 Grundschulen werden versuchsweise die ersten beiden Klassen
zusammengelegt. Die Pioniere der "Flexiblen Grundschule" können ihre
Grundschulzeit variabel in drei bis fünf Jahren durchlaufen. Der bayerische
Lehrerverband lobt die Absicht und rügt die Umsetzung: Zusätzliche Lehrer
hat die Regierung nicht rekrutiert. An der Mittelschule missfällt dem
Lehrerverband alles: "Die Klingelschilder werden ausgetauscht, sonst ändert
sich wenig", sagt Vorsitzender Klaus Wenzel. Gleicher Meinung ist auch der
bayerische Elternverband. Die spärlichen Anmeldezahlen an den Mittelschulen
sprächen für sich.
ANNA LEHMANN
24 Aug 2010
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