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# taz.de -- Erinnerung an Schlingensief: Wollt ihr den totalen Talk?
> Auch Taxifahrern wurde der vor einer Woche gestorbene Filmemacher
> Schlingensief als Moderator der TV-Sendung "Talk 2000" bekannt.
> Erinnerung an einen Freund.
Bild: "Tötet piiiiep piep, tötet piiiiep piep": Christoph Schlingensief vor d…
1997. Kanzler Helmut Kohl regiert eine Republik im Stillstand. Talkshows
quasseln auf allen Kanälen. Christoph Schlingensief ist Hausregisseur an
der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Immer wenn er einen Film
dreht, berichte ich darüber seit Anfang der 90er Jahre mit kleinen
Kulturbeiträgen für diverse Fernsehmagazine. Bei vielen Redakteuren muss
ich anfangs noch Überzeugungsarbeit leisten für den anarchischen Querdenker
mit dem großartigen, absurden Humor.
Über Joachim Ortmanns gab es zehn Sendeplätze bei Kanal 4, Kulturoasen ohne
Quotendruck in der Privatfernsehhölle RTL und Sat.1 - gegen die drohende
Volksverdummung. Wir kommen auf die Idee, eine Talkshow mit dem
Arbeitstitel "Talk im Keller" aus der Kantine der Volksbühne zu machen.
Christoph Schlingensief wird TV-Moderator, und ich lade alle interessanten
prominenten Zeitgenossen ein. Wir einigen uns auf den Sendungstitel "Talk
2000", der 1997 noch sehr futuristisch klingt.
Angst vor dem Wilden
Zunächst hagelt es Absagen von Rex Gildo, Heino, Ulrich Wickert, Udo
Jürgens und vielen anderen. Wir versuchen diejenigen, die Schlingensief
lediglich als Provokateur aus dem Feuilleton kennen, mit seriösen Themen zu
überzeugen. Rudolph Moshammer können wir für "Sind Tiere die besseren
Menschen?" samt Hündchen Daisy in die Volksbühne einladen. Als Hildegard
Knef für "Forever Young" zusagt, ist Christoph euphorisch, er glaubt es
erst, als die Knef ein wenig verloren mit ihrem Mann am Hintereingang der
Volksbühne steht, wo er sie schüchtern und mit einem Strauß roter Rosen
abholt. Er freut sich wie ein kleiner Junge und ist während der ersten
beiden Aufzeichnungstage sehr aufgeregt, was man in den ersten vier
Sendungen gut an den riesigen Schweißflecken unter seinen Achseln ablesen
kann.
"Talk 2000" war ein Experiment, und niemand wusste, was dabei herauskommen
würde. Was wir wollten, war eine Talkshow mit echten Emotionen,
Überraschungen und großen Gefühlen. Ablaufpläne gab es nicht. Alles sollte
aus dem Moment heraus entstehen. Eine Drehbühne wollte ich haben, denn da
war alles in Bewegung, und die Gäste würden so aus ihrer Talkroutine
herausgerissen. Wir verabredeten, echte technische Pannen in die Sendungen
einzubauen.
Ich hatte volles Vertrauen zu Christoph als Moderator, weil ich wusste,
dass er ein Improvisationsgenie ist. Christoph wurde von mir mit Fakten zu
den Prominenten gebrieft. Er sollte als Moderator aber genau wie seine
Gäste in erster Linie an sich selbst interessiert sein und damit deren
Promotionabsichten ad absurdum führen. Für den Fall, dass ihm nichts mehr
einfallen sollte, hatten wir ein paar Spielmöglichkeiten parat. Zum
Beispiel gab es eine gefakte Fernsehschalte in die Loge des aus Bulgarien
stammenden Pförtners der Volksbühne mit dem Künstlernamen Oblomov. Oblomov
war sehr sympathisch, aber kaum zu verstehen. Von ihm konnte sich Christoph
während der Sendung die Einschaltquoten vorlesen lassen. Ich saß die ganze
Zeit auf der Drehbühne und konnte, wenn Christoph nichts mehr einfiel, per
Walkie-Talkie das Telefon auf seinem Tisch klingeln lassen, was einmal zu
einem Wutanfall führte, bei dem er das Telefon auf den Boden schleuderte
und es in tausend Teile zersprang. Besonders gut kam danach die
Telefonstimme von Oblomov rüber, der einfach weitersprach.
Der erste Tag sorgte gleich für Schlagzeilen. Mit Rudolph Moshammer will
Christoph viel lieber über sechs Millionen Arbeitslose als über Tiere als
bessere Menschen sprechen. Mit Sprechchören ruft er schließlich im Studio
zum Mord an Helmut Kohl auf. Entsetzt verlässt Moshammer die Sendung, den
Mitwirkendenvertrag hat er glücklicherweise vorher unterschrieben. Auf
Druck von Kanal 4 müssen wir dann "Helmut Kohl" aber doch mit einem Piepton
unterlegen: "Tötet piiiiep piep, tötet piiiiep piep" bleibt davon übrig.
Die Zuschauer haben es trotzdem verstanden und auch die, die am nächsten
Tag aus Bild und B.Z. davon erfuhren: "Regie-Rambo als TV-Talkmaster".
Christoph Schlingensief und die Medien - eine symbiotische Beziehung, die
hier ihren Beginn hatte. Sein jungenhafter Charme, sein Charisma, machten
ihn zum Traum aller Schwiegermütter, der nach "Talk 2000" zum ersten Mal in
seinem Leben viele Heiratsanträge von Frauen aller Altersgruppen bekam, zum
Provokateur, dem man trotz seiner Frechheiten nicht ernsthaft böse sein
konnte. Außer der Boulevardpresse, in der er als Skandalregisseur tituliert
wurde, nahmen ihn damals nur wenige ernst. Er war zu jung, um als
Ausnahmekünstler gewürdigt zu werden, obwohl er es schon war.
Ich saß monatelang im Schnitt, um die aufgezeichneten 90 Minuten auf 30
herunterzukürzen. "Talk 2000" sollte ja um keinen Preis langweilig sein,
wie es die normalen Talkshows waren. Und das gelang offensichtlich.
Christoph wurde zum Medienstar, der plötzlich von Taxifahrern erkannt und
von wildfremden Menschen auf der Straße nach Autogrammkarten gefragt wurde.
Darüber freute er sich mit kindlichem Vergnügen.
Sein größter innerer Konflikt blieb jedoch die Frage, wie kann man mich
lieben, wenn ich am Ende immer alles kaputt machen muss? Ein Thema, das ihn
über die Jahre begleitet hat, wie drei Jahre später bei der U-Bahn-Show
"U3000". Christoph und ich wollten hier ein für alle Mal die Grenzen des
Mediums ausloten. Der Talk ist nur noch Farce, Misskommunikation und
Schweigen, ansonsten viel Geschrei und Aktion. Absurditäten, die die heile
TV-Welt infrage stellen sollen: die Außenwette auf dem Schrottplatz, bei
der Familien ihre Autos um die Wette zerkloppen, Videoeinspieler von Geburt
und Tod, und Christoph lässt vor den geschockten Hellwigs die Hosen runter.
Er brüllt sich durch die acht Folgen wie ein Berserker. Ich, damals
hochschwanger, bleibe der letzten Aufzeichnung fern, weil ich weiß, dass
etwas passieren wird, was alles toppt. Das Telefon klingelt kurz vor
Schluss der Sendung: Die BVG lässt ausrichten, dass wir eine Anzeige wegen
Erregung öffentlichen Ärgernisses bekommen, weil ein nackter Mann auf einem
U-Bahnhof im Kettcar mit einer Möhre im Allerwertesten gesehen worden sei.
Dazu habe Christoph gerufen: "Das ist Matthew Barney - das ist eine
Kunstaktion". MTV hat "U3000" bis auf ein zweiteiliges Best-of in der
vergangenen Woche leider nie wieder gesendet. Wahrscheinlich fanden die
Verantwortlichen es nicht glatt genug für ihr Programm, denn wir konnten
nicht alle Behinderten rausschneiden.
2007, zehn Jahre nach "Talk 2000", unser letztes großes gemeinsames
Fernsehprojekt: "Die Piloten" in der Akademie der Künste Berlin. Christoph
ruft mich an, er hat Geld vom Hauptstadtkulturfonds und schlägt vor, eine
Bestandsaufnahme zu machen, um herauszufinden, was in diesen zehn Jahren im
deutschen Fernsehen Neues passiert ist. Er selbst ist inzwischen zum
Medienstar geworden, diesmal folgen alle Gäste den Einladungen zur Talkshow
- außer Harald Schmidt. Die Finanzierung einer Talkshow kann ich so schnell
nicht auf die Beine stellen. Arte hat jedoch Interesse an einem Porträt
über Christoph Schlingensief. Also drehe ich mit sechs Kameras, um vor und
hinter den Kulissen möglichst alles mitzubekommen. Wieder einmal gibt es
kein echtes Konzept. Wir verabreden, dass es genauso sein soll wie bei
"Talk 2000", wo zum Teil behinderte Schauspieler Fake-Prominente
darstellen. Damit wollen wir die Selbstdarstellung von Prominenten in den
Medien hinterfragen.
Angst um den Vater
"Krankheit", das Thema der ersten Sendung, klingt im Nachhinein unheimlich
hellsichtig. Christoph thematisiert seine eigene Angst, ebenso wie sein
kranker Vater zu erblinden. Als sich der Zustand seines Vaters während der
Dreharbeiten verschlechtert, beklagt Christoph vor laufenden Kameras, dass
sein Vater im Sterben liege und er hier stattdessen eine Talkshow
aufzeichne. Gemeinsam mit Claudia Roth, deren guter Journalistenfreund vor
ein paar Stunden in der Türkei erschossen wurde, thematisiert er Tod und
Trauer in der Sendung. Backstage bemerkt Christoph dann, dass er gerade
genau das getan hat, was er seinen Gästen eigentlich vorwerfen wollte: sich
selbst medial grenzenlos auszubeuten. Er bricht die Dreharbeiten ab und
reist zu seinem Vater.
Als wir nach einem halben Jahr weitermachten, analysierten Christoph und
der Medienwissenschaftler Boris Groys die Sendung. Ihr Fazit:
Unsterblichkeit in den Medien zu erlangen ist die Religion unserer Zeit. -
Christoph, ich vermisse dich!
27 Aug 2010
## AUTOREN
Cordula Kablitz-Post
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