# taz.de -- Nachwungsmangel in der Industrie: Aufschwung da, Jugendliche abgeh�… | |
> Für Unternehmen wird es immer schwieriger, Nachwuchskräfte zu finden: | |
> Immer stärker werben sie um qualifizierte Jugendliche. Die | |
> Bildungsverlierer bleiben auf der Strecke. | |
Bild: Selbst in Stahlwerken gibt es heute kaum noch Jobs für Ungelernte. | |
Salzgitter, nördliches Harzvorland, 100.000 Einwohner, Stadtmotto: "Kinder | |
fördern und Familien unterstützen". Die Stadt ist Produktionsstandort von | |
nicht weniger als fünf Firmen von Weltrang: dem Stahlkonzern Salzgitter AG, | |
Bahnbauer Alstom, dem Elektronikunternehmen Bosch, dem Lkw-Fabrikanten MAN | |
und Autobauer VW. In der Stadt heißen sie: Die "Big Five". Salzgitter, so | |
scheint es, ist gut aufgestellt für die Zukunft. Und doch gibt es Dinge, | |
über die sie sich Sorgen machen. "Der demografische Wandel", sagt Florian | |
Löbermann, der Mann aus der Industrie. "Die Qualität der Bewerber", sagt | |
Herbert Lindhofer, der Elektromeister. | |
Fünfzehn Prozent weniger Einwohner und fast 30 Prozent weniger | |
Unter-18-Jährige - das sind Prognosen des Niedersächsischen Landesamts für | |
Statistik für Salzgitter im Jahr 2021. Der demografische Wandel rückt hier | |
bedrohlich nahe an die Gegenwart. Für die Unternehmen heißt das: Es wird | |
bedeutend schwieriger, qualifizierten Nachwuchs zu finden. | |
Die Erfahrungen von Industrie und Handwerk in Salzgitter spiegeln dabei | |
Trends, die sich bundesweit bemerkbar machen. Laut der diesjährigen | |
Ausbildungsumfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertags beklagt | |
die Hälfte der Unternehmen die "mangelnde Ausbildungsreife" ihrer Bewerber. | |
Viele Firmen gingen dazu über, innerhalb des Unternehmens Nachhilfe | |
anzubieten. | |
Die "Big Five" aus Salzgitter wollen nicht warten, bis sie das Problem | |
einholt. Gemeinsam mit den weiterbildenden Schulen, der Stadt und der | |
regionalen Wirtschaftsförderung haben sie vor zwei Jahren ein Projekt ins | |
Leben gerufen, das unter dem Akronym BONA SZ "Berufsorientierung und | |
Nachwuchssicherung für gewerblich-technische und naturwissenschaftliche | |
Berufe" leisten soll. | |
Florian Löbermann, der beim Tochterunternehmen Salzgitter Service und | |
Technik den Bereich Berufliche Bildung leitet, erzählt: "Wir wollen das | |
Interesse an Naturwissenschaften wecken. Also stellen wir zum Beispiel | |
Experimentierkoffer für die Schulen bereit oder veranstalten Techniktage." | |
Die Firmen haben Angst, dass mit einem "Berufs- und Studienwahlverhalten, | |
das sich nur wenig an den Beschäftigungsperspektiven orientiert", die | |
Nachwuchsrekrutierung doppelt schwer werde. | |
Die Industrieunternehmen zerbrechen sich den Kopf über ihre | |
Nachwuchssorgen. Beim Handwerk gibt es dieses Problem bereits heute. | |
Herbert Lindhofer führt einen Elektrobetrieb mit 30 Mitarbeitern. Früher | |
bekam er pro Jahr 80 Bewerbungen auf seine drei Ausbildungsplätze, heute | |
sind es noch 50. "Da sind vielleicht fünf darunter, die einen akzeptablen | |
Notenschnitt haben", beklagt sich Lindhofer. "Für eine Lehre als Elektriker | |
muss man doch auch was im Köpfchen haben!" In solchen Regionen beginnt also | |
bei den Facharbeitern, was es weltweit bei Ingenieuren schon gibt: Der War | |
for Talents, Krieg um die weniger werdenden Talente. | |
"Die Qualifikationsanforderungen im Erwerbsleben sind gestiegen", sagt | |
Arbeitsmarktökonom Hilmar Schneider. Gleichzeitig brächten aber immer | |
weniger junge Menschen die erforderlichen Voraussetzungen mit, so der | |
Direktor am Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit in Bonn. "Ein Teil | |
der Jugendlichen scheitert schon an einfachsten Anforderungen. Dinge, die | |
man immer für selbstverständlich gehalten hat, sind nicht mehr | |
selbstverständlich." | |
Hinzu kommt, dass Industriejobs höher angesehen sind als das Handwerk. "Das | |
Handwerk hat ein Imageproblem", sagt Marius Busemeyer, Arbeitsmarktforscher | |
am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. "Gute Jugendliche | |
mit mittlerer Qualifikation gehen auf die Hochschule - zurück bleiben die | |
Niedrigqualifizierten." Und die treffen auf eine Ausbildungswelt, die viel | |
anspruchsvoller ist als früher: "Oft ist eine Berufsausbildung einfach zu | |
schwierig für einen Hauptschulabgänger", meint Busemeyer. | |
Sorge bereitet der Industrie auch der zahlenmäßige Rückgang der | |
Schulabgänger. Hierbei spielt auch eine Rolle, dass immer mehr junge | |
Menschen ein Studium beginnen - mittlerweile 43 Prozent eines Jahrgangs. | |
Im Juli lag der Anteil der unter 25-Jährigen ohne Arbeit bei 8,9 Prozent. | |
Damit waren mehr als 360.000 junge Menschen arbeitslos. Auch Herbert | |
Lindhofer fragt sich: "Was machen wir mit denen, die übrig bleiben?" Es ist | |
eine Frage, die besonders vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte über | |
einen Fachkräftemangel an Brisanz gewinnt. Erst in der vergangenen Woche | |
beklagten die Wirtschaftsverbände, dass momentan zwei von drei Unternehmen | |
Probleme hätten, offene Stellen zu besetzen. | |
Auch die Bundesregierung nahm sich daraufhin des Problems an. | |
Arbeitsministerin Ursula von der Leyen verkündete, der Engpass sei doch | |
auch eine Chance für Jugendliche, Frauen mit Kindern und Ältere. Diesen | |
Vorstellungen tritt Marius Busemeyer entschieden entgegen. "Das Problem", | |
sagt der Wissenschaftler, "erledigt sich nicht von allein." | |
Dies gelte gerade für die Niedrigqualifizierten: "Da kann der | |
Fachkräftemangel noch so groß sein." Nachwuchsschwund, Imageprobleme im | |
Handwerk und bei technischen Berufen, dazu Schulabgänger, die den | |
Anforderungen der Ausbildung nicht gewachsen sind. In Salzgitter müssen sie | |
die Nachwuchssicherung an vielen Fronten verteidigen. Und gegebenenfalls | |
eben auch mit den Konkurrenten zusammenarbeiten: So wie es die großen Fünf | |
aus Salzgitter vorgemacht haben. | |
1 Sep 2010 | |
## AUTOREN | |
Niklas Wirminghaus | |
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