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# taz.de -- Chinesischer Autor lebt gefährlich: Dissident ohne Angst
> In seinem Buch führt Yu Jie das große Schauspieltalent des chinesischen
> Premierministers vor. Für den Autor ist es ein gewagter und ein
> gefährlicher Vergleich.
Bild: "Man darf seine Freiheit nicht aufgeben" - Yu Jie scheut sich nicht vor E…
PEKING | Der Treffpunkt ist ein Buchladen in der Jingjing-Siedlung im Osten
von Peking. Alles wirkt friedlich und bürgerlich. Die Sonne scheint auf die
bunten Apartmenthäuser hinter breiten Bürgersteigen, auf Restaurants,
Geschäfte und glänzende Mittelklassewagen. Hier herrscht bereits der
"kleine Wohlstand", den die Kommunistische Partei allen Chinesen
versprochen hat.
Es ist kein Platz, an dem man Rebellen vermutet. Und Bürger Yu Jie,
Literaturwissenschaftler mit Abschluss der renommierten Universität Peking,
hat nichts von einem gefährlichen Gegner oder Aufrührer an sich, von einem,
den die Regierung fürchten müsste.
Er trägt Shorts und ein graublaues Polo-Shirt, trinkt ein Schälchen Tee und
sagt ruhig: "Sie werden wiederkommen - vielleicht nicht jetzt, aber ganz
sicher später." "Sie" - das sind die Beamten der Staatssicherheit, die dem
37-jährigen Autor noch in diesem Juli Gefängnis angedroht haben, falls er
sein neuestes Buch veröffentlichen sollte. Er hat es dennoch getan, das
Buch liegt vor ihm auf dem Tisch. Sein Titel: "Chinas größter Schauspieler:
Wen Jiabao".
Regierungschef mit Showtalent
Der Buchumschlag zeigt Chinas Regierungschef, der wie auf einer Bühne vor
rotgoldenem Vorhang mit funkelnden Lichtern steht. Auf 378 Seiten hat Yu
Wens Politikstil analysiert. Sein Fazit: Das sorgsam gepflegte Image des
Premierministers als gütiger und reformfreudiger Landesvater sei
Augenwischerei, eben "reine Show".
Für Yu ist Wen ein Machtpolitiker, der seine Rolle höchst erfolgreich
spielt. Viele Chinesen nähmen sie ihm nur zu gern ab, weil das der
verbreiteten Sehnsucht nach einem "guten Herrscher" entspreche, ganz nach
der Tradition des "aufrechten Beamten" an der Seite strikter Kaiser.
Tränenreich hatte Wen sich zum Beispiel vor zwei Jahren nach dem Erdbeben
in Sichuan gezeigt, den Opfern Mut zugesprochen und erklärt, die Regierung
werde nach den Ursachen forschen. Doch die korrupten Funktionäre,
verantwortlich für die schlecht gebauten Schulen, in denen tausende Kinder
starben, hat Wen nie zur Verantwortung gezogen; die Behörden verhinderten
eine Untersuchung, die verzweifelten Eltern wurden schikaniert.
Auch für Wanderarbeiter zeigte Wen öffentliches Interesse und nannte sie
"meine Kinder" - de facto aber blieben sie arm und rechtlos, während sich
die Kinder von Funktionären immer mehr bereicherten.
Direkte Kritik an den Führern des Landes ist tabu, und Yu Jie hat dieses
Tabu gebrochen. Er weiß genau, wie gefährlich das ist: Sein Freund und
Lehrer Liu Xiaobo, politischer Kommentator und Koautor des Reformappells
"Charta 08", wurde wegen seiner politischen Ideen zu elf Jahren Haft
verurteilt.
Yu selbst, Mitbegründer des unabhängigen chinesischen PEN-Zentrums, hat
schon seit zehn Jahren Berufsverbot, er steht unter ständiger Beobachtung
und Bewachung, seine Bücher und Artikel dürfen nur noch im politisch
freieren Hongkong und auf ausländischen Webseiten erscheinen.
Es ist eine merkwürdige Situation, typisch für das so verwirrend und
widersprüchlich erscheinende politische Klima Chinas im Sommer 2010: Da
sitzt Yu Jie, ein zierlicher Mann mit schlichter Brille und leichtem
Sprachfehler, in einer gemütlichen Sitzecke des Buchladens und gibt
ausländischen Medien ein Interview nach dem anderen über ein Buch, das in
diesem Geschäft nicht verkauft werden und über das in chinesischen
Zeitungen nicht geschrieben werden darf.
Die alten Bücher sind gefloppt
Absurd ist die Aufregung über das Buch ohnehin: "Hätte mich die
Staatssicherheit in Ruhe gelassen, hätte sich kaum jemand dafür
interessiert", meint Yu. Er hat in den vergangenen zehn Jahren über zwei
Dutzend Bücher in Hongkong und Taiwan veröffentlicht und auch heikle Themen
nicht gescheut. So zum Beispiel den Vergleich ehemals sozialistischer
Staaten Osteuropas mit China (in "Vom Mauerbau bis Tiananmen", erschienen
in Taiwan) und eine kritische Analyse der Politik von Staats- und
Parteichef Hu Jintao. Yu hat das Hu-Buch mitgebracht - ein Flop für
chinesische Verhältnisse. Kaum mehr als 2.000 Exemplare wurden verkauft.
Der Band über den "Schauspieler Wen", der am 16. August in Hongkong
herausgekommen ist, war dagegen innerhalb von zwei Tagen vergriffen,
inzwischen sind bereits 10.000 Stück nachgedruckt. "Dass ein ernsthaftes
politisches Buch so viele Käufer findet, ist ein Wunder", sagt Yu. In China
sei es wie in den meisten Ländern der Welt - um Politik kümmert sich nur
eine winzige Minderheit.
Doch das scharfe Urteil gegen den "Charta 08"-Initiator Liu Xiaobo im
Dezember hat viele Chinesen aufgeschreckt. Für Yu selbst war es eine
Mahnung, sich nicht einschüchtern zu lassen: "Das Beste, was wir für meinen
Freund Liu tun können, ist, weiterzumachen." Deshalb habe er sich
entschieden, sein Wen-Buch trotz des Drucks der Polizei zu veröffentlichen.
Und dann sagt Yu jenen Satz, der den Kern seiner Überzeugung verrät: "Man
darf seine Freiheit nicht aufgeben." Hätte er nachgegeben und das Buch in
Hongkong nicht veröffentlicht, "wären sie am nächsten Tag gekommen und
hätten verlangt, dass ich keine Artikel mehr für Hongkonger Zeitungen
schreibe. Am Tag darauf hätten sie mir verboten, ausländischen Journalisten
Interviews zu geben. Selbst wenn mein Körper nicht im Gefängnis wäre, meine
Seele wäre eingesperrt."
Als er im Jahr 2005 zum ersten Mal abgeholt und über 14 Stunden lang
verhört wurde, warnten ihn die Polizisten, man könne ihn "verschwinden
lassen", durch einen Autounfall zum Beispiel, erinnert er sich. Dies sind,
das weiß in China jedes Kind, keine leeren Drohungen. Seit jener Zeit sind
mehrere Kritiker wie der Rechtsanwalt Gao Zhisheng verschwunden, andere
wurden verprügelt und inhaftiert. "Ohne meinen Glauben hätte ich sehr viel
Angst gehabt", sagt Yu. Im Jahr 2003 ließ er sich taufen, er gründete eine
unabhängige evangelische Hauskirche, auch seine Frau ist gläubig.
Ihrem Engagement als protestantische Bürgerrechtler - außerhalb der
staatlich zugelassenen Kirche - verdankten Yu und zwei chinesische
Rechtsanwälte im Jahr 2006 eine Audienz bei US-Präsident George W. Bush im
Weißen Haus. Das verärgerte die Pekinger Behörden so stark, dass sie, wie
Yu berichtet, noch am selben Tag einen Polizisten zu seiner Frau schickten:
"Er hat sie bedroht und ihr gesagt, sie solle sich von mir scheiden
lassen."
Im Laden ist es ruhig, nur das Brodeln der Kaffeemaschine und das Klappern
von Computertasten sind zu hören. In den Regalen liegt eine bunte Mischung
aus literarischen Klassikern, Übersetzungen ausländischer Werke und
Jazz-CDs. Die Wände sind blauviolett gestrichen, verziert mit Filmpostern,
Tuschezeichnungen, Skulpturen und Karikaturen.
Den Titel "Regimekritiker" möchte Yu nicht für sich gelten lassen: "Ich
bezeichne mich selbst lieber als unabhängigen Intellektuellen." Er
kritisiere "alle, die die Freiheit verletzen". Er verurteile aber nicht
automatisch alles, was Chinas kommunistische Partei tut: "Sie ist nicht der
Maßstab meines Denkens." Die Frage, warum er - anders als sein Freund Liu
Xiaobo - in Freiheit bleibt, Interviews geben und sogar immer wieder ins
Ausland reisen darf, kann er nicht beantworten. "Vielleicht liegt es daran,
dass ich keine politischen Aktivitäten organisiere", sagt er.
Mit Liu teilt er die Hoffnung, dass China sich Schritt für Schritt
reformieren, allmählich mehr Presse- und Wahlfreiheit einführen wird. "Wir
haben nie gefordert, dass China über Nacht wie die USA oder Deutschland
werden soll."
Das Buch birgt keine Enthüllungen
Wie viele Landsleute Yus Werke überhaupt lesen, ist völlig unklar: Nur
wirklich interessierte Internet-Nutzer, die wissen, wie man die
Zensurblockaden überwinden kann, erfahren von seinen Werken. Manche Bücher
gelangen aus Hongkong im Koffer über die Grenze, hier und da sind
Raubdrucke unterwegs. Seit ein paar Tagen liest der chinesische Dienst der
Deutschen Welle aus dem "Schauspieler Wen" vor, berichtet Yu. Unter
mehreren hundert Einträgen im Internet habe sein Buch etwa gleich viel
Zustimmung wie Ablehnung erfahren.
Ein Enthüllungswerk über die Person Wen Jiabao, seine Familie und seine
Besitzverhältnisse ist es allerdings nicht. "Das ist unmöglich in China,
solche Informationen sind streng geheim", sagt Yu. Er nutze nur offiziell
zugängliche Quellen. "Wenn ich eine Biografie Wens schreiben wollte, müsste
ich auf den Tag der Demokratie warten, und dann würde ich ein Jahr oder
zwei mindestens in den Archiven sitzen und Akten lesen.
3 Sep 2010
## AUTOREN
Jutta Lietsch
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