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# taz.de -- BRANDENBURGER GRÜNDEN DORFLÄDEN: Gesucht: der Laden gleich um die…
> In Seddin gibt es keinen Bäcker mehr, keinen Supermarkt und keinen Kiosk.
> Weil die Unternehmen sich nicht mehr für sie interessieren, wollen die
> Bewohner jetzt in Eigenregie einen Dorfladen gründen.
Bild: Klappe zu, Konsum tot: Immer mehr Dörfer sind kommerziell verwaist
Als vor sieben Jahren der Supermarkt an der Hauptstraße dichtmachte, kam
den Seddinern auch ein Treffpunkt abhanden. Sicher, die Senioren besuchen
Kurse im Gemeindehaus, junge Eltern sehen sich in der Kita. Aber der
Plausch beim Bäcker, ein kurzes Hallo an der Supermarktkasse oder ein
Schwatz an der Fleischertheke - das ist in Seddin jetzt Geschichte. Es gibt
keine Einkaufsmöglichkeit mehr in dem 1.100-Seelen-Ort im Landkreis
Potsdam-Mittelmark. Oder noch nicht. Denn die Einwohner haben beschlossen,
ihre Nahversorgung selbst zu organisieren. Bürgerinnen und Bürger gründen
einen Dorfladen - es wäre das erste Projekt seiner Art in Brandenburg.
Fünfzig Kilometer von Berlin entfernt, lässt sich Seddin noch zum
Speckgürtel rechnen. Alteingesessene leben mit Zugezogenen zusammen, den
Weihnachtsmarkt rund um die Dorfkirche organisieren die Bewohner in
Eigenregie. Auf der anderen Seite des Großen Seddiner Sees liegt ein
Golfplatz, der am Wochenende Berliner aus der Stadt lockt. An die 30 Kinder
besuchen die Kita, auf dem Spielplatz gegenüber ist auch immer etwas los:
Der Ort hat eine Basis.
Nur keine Einkaufsmöglichkeit. Die nächsten Supermärkte sind in Neuseddin,
zwei Kilometer entfernt, aber durch die Bundesstraße abgeschnitten. Wer
dorthin will, muss entlang der Straße durch den Wald, bis er ins
Gewerbegebiet kommt. Dort haben sich um einen Parkplatz ein Drogeriemarkt,
ein Bäcker, ein Blumenladen und ein Lebensmitteldiscounter angesiedelt.
Mitten im Wald, man fährt mit dem Auto hin, kauft ein, fährt davon.
Pendlern, die am Bahnhof Neuseddin in den Zug steigen, reicht das. Den
älteren Seddinern, die nur noch schlecht zu Fuß sind, nicht.
Eine ganze Weile akzeptierten die Seddiner diese Situation. Es ist ja auch
keine Seltenheit im ländlichen Raum: Die Dorfidylle existiert fast nirgends
mehr; kleine Einzelhändler - die "Tante Emma" - sind ausgestorben. Dann
traf der Seddiner Bernd Lehmann bei einem Vortrag Jürgen Spelthann.
Spelthann ist Mitarbeiter der "Dorv GmbH", einer Gesellschaft für
"Dienstleistung und ortsnahe Rundumversorgung". Deren Gründer Heinz Frey
hatte in Nordrhein-Westfalen einen Dorfladen initiiert und war mit seinem
Genossenschaftsmodell so erfolgreich, dass sich Gemeinden bei ihm Rat
holten. Zur Bewältigung der Anfragen musste Frey bald Spelthann als
Mitarbeiter einstellen.
Die Herausforderungen, die der Nordrhein-Westfale beschrieb, kamen dem
Brandenburger bekannt vor. "Wir haben hier im Ort nichts mehr außer einem
Friseur", sagt Bernd Lehmann. "Viele sind nicht mehr mobil, das Dorf
altert." Was die in NRW können, schaffen wir auch, dachte sich der Rentner.
Das Gebäude ist ja da; seit Rewe aus dem zweckmäßigen Haus an der
Hauptstraße auszog, steht es leer. Die Rollläden sind heruntergelassen,
Absperrband flattert, Wurzeln haben die Steinplatten auf dem Parkplatz
aufgebrochen. Es müsste nur ein bisschen hergerichtet werden.
Lehmann gründete eine Initiativgruppe, erkundigte sich bei der
Landesregierung nach Fördermitteln, organisierte eine erste
Fragebogenaktion im Frühjahr mit, stets in Kontakt mit Spelthann. Was wollt
ihr in eurem Dorf? Wollt ihr überhaupt ein Zentrum, und was soll es
leisten?, so die Fragen. Das Ergebnis: Mehr als 95 Prozent der Seddiner
waren dafür, dass sich der leerstehende Supermarkt wieder mit Waren und
Leben füllt.
Für Lehmann eine Bestätigung. 67 Jahre ist er alt, er handelt auch in
Voraussicht: Wer weiß, ob er in zehn Jahren noch mit dem Auto zum
Supermarkt fahren kann, zum Geldautomaten? Dazu kommt: Für die Zugezogenen
und die Jüngeren, die in Beelitz, Potsdam und Berlin arbeiten, ist ein
Treffpunkt zweitrangig. Die älteren aber, die arbeitslos oder im Ruhestand
sind - für die wäre ein Ort wichtig, an dem sie sich austauschen und eine
Gemeinschaft pflegen können.
Jürgen Spelthann erstellte eine Basisanalyse für Seddin. Das Geld dafür kam
von einem Versicherer, der einen Fonds für derartige Projekte aufgelegt
hat. Als der Dorv-Mann seine Ergebnisse vorstellte, kamen 120 Menschen, der
Gemeindesaal war rappelvoll. "Das ist ein wichtiger Indikator für uns",
sagt er. Engagement könne nur entstehen, wo Menschen von etwas begeistert
sind. Spelthanns Bilanz: "In Seddin ist eine bürgerschaftliche Lösung
möglich." Ursprungsinitiator Lehmann hat sich nach Streitereien mit anderen
Akteuren zurückgezogen. Nun will eine nach der Bürgerversammlung gegründete
Steuerungsgruppe den Dorfladen realisieren.
Zunächst sollen die Bewohner auf einem neuen Fragebogen genauer ihre
Wünsche, auf dieser Basis will die Gruppe ein Geschäftsmodell entwerfen.
Den Ideen und Ansprüchen gerecht zu werden, wird auf jeden Fall eine
Herausforderung - sie sind vielfältig. "Ein kleiner Supermarkt mit Café,
das wäre prima", sagt etwa Katja Neubert, die gerade Elternzeit nimmt, aber
sonst außerhalb arbeitet. "Das kann wegen mir auch einen Tick teurer sein."
Daniela Weißflog wünscht sich einen Jugendtreff: "Die Jugendlichen haben
nichts im Moment." Und die Frau am Kirchplatz meint, alles, was komme, sei
ein Gewinn. Natürlich solle das Geschäft auch offen haben, wenn die Pendler
von der Arbeit kommen, und am Wochenende, zu teuer darf es auch nicht sein
…
Die Steuerungsgruppe will bestehende Läden in Nordrhein-Westfalen oder
Bayern besichtigen. In Ostdeutschland existieren solche
Genossenschaftsprojekte bisher kaum. Warum, darüber kann Experte Spelthann
nur spekulieren. Nach der Wende hätten Supermarktketten den neuen Markt
überschwemmt, sagt er. "Man hat sich sehr darauf verlassen, dass der Handel
kommt und die Probleme löst."
Spelthann ist davon überzeugt, dass nun auch in Brandenburg eine Bewegung
"von unten" einsetzt. Überalterung, Abwanderung und der gleichzeitige
Rückzug von Konzernen aus dem ländlichen Raum seien Probleme, die sich
verschärfen, sagt er. Die Soziologin Claudia Neu pflichtet dem bei. Sie hat
im Auftrag der Universität Rostock eine Gegend in Mecklenburg-Vorpommern
auf Nahversorgungskonzepte hin untersucht. "Überalterung und Abwanderung
sind rasend schnelle Abläufe, in Ostdeutschland sind diese Prozesse für
jeden sichtbar."
In Seddin denkt die Steuerungsgruppe über die Gründung einer Genossenschaft
oder einer GmbH nach, auch abhängig davon, was das Zentrum leisten kann.
Sind die unterschiedlichen Vorstellungen abgestimmt, wartet die nächste
Herausforderung auf die Steuerungsgruppe: Es müssen sich Leute finden, die
langfristig mitarbeiten wollen. Das Dorfzentrum soll wirtschaftlich
arbeiten und regionale Kreisläufe fördern. Tagsüber im Laden arbeiten kann
eigentlich nur, wer in Frührente ist. Menschen wie Daniela Weißflog und
Katja Neubert sind zwar mit Engagement und Interesse dabei; mehr als
punktuell können sie wegen Arbeit und Familie kaum mitwirken. Und Seddinern
im fortgeschrittenen Alter ist es kaum mehr zuzumuten, lange hinter der
Theke zu stehen.
Eigentlicher Knackpunkt bleibt die Wirtschaftlichkeit. Es müssen so viele
Menschen solche Mengen abnehmen, dass sich der Laden trägt. "Mit Preisen
beim Discounter können und sollen Dorfläden nicht konkurrieren", erklärt
Spelthann. Inzwischen haben sich einzelne Großhändler auf die Belieferung
kleiner Geschäfte auf dem Land oder am Stadtrand spezialisiert oder mit "IK
- Ihr Kaufmann" und "Markant" eigene Nahversorgervertriebslinien aufgebaut.
So seien herkömmliche Supermarktpreise möglich, ist Spelthann überzeugt.
Der Dorv-Mitarbeiter verweist auf den Ursprungsladen der Gesellschaft im
nordrhein-westfälischen Barmen. Nur 10 Prozent der Einkäufe tätigten die
Bürgerinnen und Bürger dort - 90 Prozent kauften sie nach wie vor in weiter
entfernten Supermärkten. Für das Weiterbestehen des Ladens reiche das aber
aus.
Heinrich Becker ist da skeptischer. Für das Bundesforschungsinstitut
Thünen, das ländliche Räume im Fokus hat, beobachtet er Daseins- und
Nahversorgung auf dem Land seit vielen Jahren. "Zumindest bei Dorfläden,
die mit Subventionen angeschoben werden, ist das bisweilen
rausgeschmissenes Geld", stellt er fest. "Die Mehrzahl dieser Läden hat
nach wie vor große Probleme, die Leute sind nicht zufrieden mit dem
Angebot, außerdem hat sich das Kaufverhalten der Mehrheit nicht geändert -
sie fahren nach wie vor mit dem Auto zum Supermarkt."
Der Wissenschaftler erinnert zudem daran, dass mobile Einzelhändler manche
abgelegenen Dörfer anfahren und damit zumindest ein Basisangebot
sicherstellen. Es wäre kontraproduktiv, wenn sie wirtschaftlich leiden
müssten, weil ein mit staatlichen Mitteln hochgezogener Dorfladen in
Konkurrenz tritt. Auch nach Seddin kommen mehrmals in der Woche ein mobiler
Bäcker und ein Fleischer.
Um Wettbewerb zu vermeiden und solche für den ländlichen Raum wichtigen
Angebote zu erhalten, müssten mobile Händler eingebunden werden. Spelthann
stimmt dem zu: Ziel könne nicht sein, die Kleinanbieter zu erledigen;
vielmehr sollten regionale Kreisläufe gestärkt werden, sagt er. Wenn also
ein Laden Gemüse und Kartoffeln vom Bauern aus dem Dorf anbietet,
integriert er den Landwirt in die Konsumkette - gleichzeitig bietet er
frische und regionale Ware an, die Verbraucher bei Aldi oder Netto nicht
finden.
Nischen suchen, dafür plädiert auch Becker vom Thünen-Institut. Also auf
Frische setzen, Regionales - seiner Ansicht nach die einzige Chance, sich
dauerhaft zu behaupten. Auch der Seddiner Steuerungskreis meint, dass sich
ein reiner Minisupermarkt nicht trägt. "Maßgabe ist, dass in dem Laden
neben Waren des täglichen Bedarfs auch Dienstleistungen angeboten werden
und er so zum Service- und Kommunikationszentrum werden kann", sagt Ellen
Krahnert von der Steuerungsgruppe.
Bei der Soziologin Neu stoßen solche Ansätze auf Zustimmung. Mit den
richtigen Rahmenbedingungen könne es funktionieren, sagt sie. Neu
distanziert sich von den Thesen Heinrich Beckers, der vor einer
Idealisierung des Dorflebens früherer Zeiten warnt. Damit habe das nichts
zu tun, sagt sie. Es gebe offenbar ein Bedürfnis nach Nahversorgungs- und
Kommunikationszentren in peripheren ländlichen Gegenden, sagt sie.
Schließlich würden die Bewohner aus Eigenantrieb aktiv.
Außerdem ist sie davon überzeugt, dass sich die Situation auf dem Land
verschärfen wird. Im Moment könne fast jeder einen Supermarkt in der
näheren Umgebung erreichen, sagt Neu, die inzwischen an der Hochschule
Niederrhein lehrt. Aber: "Wir stehen unmittelbar vor einer
Versorgungslücke." Auf Dörfer wie Seddin, das sich aus Eigenantrieb
versorgen will, könnten vermeintlich rosig ausgestattete Orte in absehbarer
Zukunft neidisch werden.
7 Sep 2010
## AUTOREN
Kristina Pezzei
## TAGS
Schweden
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