# taz.de -- Debatte Wirtschaftswachstum: Deutschland im Rausch | |
> Anders als früher, führt das gegenwärtige Wirtschaftswachstum nicht zu | |
> mehr allgemeinem Wohlstand. Es gibt zwar mehr Jobs, aber die Löhne sinken | |
> stetig. | |
Auf das Jahr hochgerechnet wuchs die deutsche Wirtschaft zwischen April und | |
Juni um gigantische 9 Prozent. Chinesische Verhältnisse an Rhein und Oder. | |
Das vermeintliche Sommermärchen ist schnell erzählt: Dank der weltweiten | |
staatlichen Konjunkturhilfen sind Waren "Made in Germany" wieder gefragt. | |
Ein schwacher Euro und niedrige Lohnstückkosten sorgen für kleine Preise. | |
Um ganze 10 Prozent sollen die deutschen Ausfuhren dieses Jahr steigen. Das | |
Ausland - in erster Linie Asien - hilft der heimischen Wirtschaft auf die | |
Beine. Aus dem Inland kommt hingegen wenig. Zwar modernisieren und | |
rationalisieren die Firmen ihre Produktionsanlagen. Für | |
Erweiterungsinvestitionen sind die wirtschaftlichen Aussichten aber nicht | |
gut genug. Und die Verbraucher schnallen den Gürtel eng. Kein Wunder, wenn | |
die Löhne nicht vom Fleck kommen. Ohne die nationalen Konjunkturspritzen | |
wäre der Binnenmarkt schon längst ausgetrocknet. Von einem selbsttragenden | |
Aufschwung kann also nicht die Rede sein. | |
Mehr Jobs, fallende Löhne | |
Zudem ist die schwarz-gelbe Regierungspolitik ein XXL-Risiko für die | |
wirtschaftliche Erholung. Seitdem Billiglöhne und prekäre Beschäftigung | |
wachsen, führen mehr Jobs nicht mehr automatisch zu höheren Löhnen. Im | |
letzten Aufschwung - 2005 bis 2007 - entstanden mehr als eine Million neue | |
Jobs. Dennoch fiel die preisbereinigte Lohn- und Gehaltssumme um 1,5 | |
Prozent. Beschäftigungs- und Lohnentwicklung haben sich weitgehend | |
entkoppelt. Deswegen springt der Funke nicht von der Export- auf die | |
Binnenwirkschaft über. Merkel, Westerwelle & Co schieben die Verantwortung | |
auf die Tarifparteien. Ein billiger Trick. Denn die Arbeitsmarkt- und | |
Sozialpolitik der letzten Jahre - Agenda 2010, Hartz IV - schwächte die | |
gewerkschaftliche Verhandlungsmacht empfindlich. Ohne bessere Regeln auf | |
dem Arbeitsmarkt bewegen sich die Löhne auch zukünftig nur im | |
Schneckentempo. | |
Doch damit nicht genug. Der oberste Kassenwart der Republik tritt gerade | |
voll auf die Ausgabenbremse. Wenn die Konjunkturhilfen nicht verlängert | |
werden, dann sinken öffentliche Investitionen und Verbrauch. Zudem kostet | |
Wolfgang Schäubles 80 Milliarden Euro schweres Sparpaket bis zu einem | |
Prozent Wachstum. Und die grundgesetzlich verankerte Schuldenbremse sorgt | |
dafür, dass das Kürzen weitergeht. Ein Staatshaushalt funktioniert aber | |
nicht wie ein Privathaushalt. Die geplanten Kürzungen reißen ein Loch in | |
die Kassen der Unternehmen und Privathaushalte. Schließlich sind die | |
Ausgaben des Staates immer auch die Einnahmen der anderen. Handwerk und | |
Bauwirtschaft erhalten weniger öffentliche Aufträge. Beschäftigte, | |
Arbeitslose und Bedürftige kaufen weniger. Wer in wirtschaftlich unsicheren | |
Zeiten den Rotstift ansetzt, schwächt das Wachstum, treibt die | |
Arbeitslosigkeit und erntet höhere Schulden. | |
Sparen ist keine Lösung | |
Die Kanzlerin stört das wenig. Angela Merkel hat inzwischen Griechen, | |
Spanier und Portugiesen zu schwäbischen Hausfrauen umerzogen. Fast alle | |
europäischen Kassenwarte schnüren heute Sparpakete. Und zukünftig sollen | |
die EU-Schatzmeister mithilfe eines geänderten Stabilitäts- und | |
Wachstumspaktes noch enger gefesselt werden. Damit droht die deutsche | |
Schuldenbremse zum Exportschlager zu werden. Mit fatalen Folgen: Am | |
Mittelmeer ist die Wirtschaft bereits eingebrochen. Griechenland und | |
Spanien stecken in der Rezession. In Frankreich und Italien stottert der | |
Wachstumsmotor. | |
Über drei Fünftel der deutschen Ausfuhren gehen aber nach Europa, allein | |
100 Milliarden Euro nach Südeuropa. Klamme Nachbarn werden schon bald keine | |
deutschen Autos und Maschinen mehr kaufen können. Dann muss auch die | |
deutsche Exportindustrie deutlich herunterschalten. Die Folge ist ein | |
verschärfter innereuropäischer Verdrängungswettbewerb. Ein Nährboden für | |
Lohn- und Sozialdumping. | |
Nur eine andere Finanzpolitik und Verteilung machen den Weg frei für | |
qualitatives Wachstum, Vollbeschäftigung und soziale Sicherheit. Dabei sind | |
höhere Löhne und mehr öffentliche Investitionen in Bildung, Gesundheit, | |
Klimaschutz sowie Infrastruktur die zentralen Weichenstellungen. | |
Reiche Deutsche, armer Staat | |
Höhere Löhne lassen sich nicht verordnen. Zunächst gilt es, die ungleichen | |
Kräfteverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt zu korrigieren. Hierfür brauchen | |
wir einen gesetzlichen Mindestlohn, gleichen Lohn für gleiche Arbeit in der | |
Leiharbeit, die Abschaffung der Mini-, Midi- und 1-Euro-Jobs sowie mehr | |
allgemein verbindliche Tarifverträge. | |
Mehr öffentliche Investitionen erfordern mehr staatliche Einnahmen. | |
Kurzfristig lässt sich die Finanzierung über höhere Schulden organisieren. | |
Mittelfristig sollten große Einkommen und Vermögen höher besteuert werden. | |
Deswegen muss die Vermögensteuer wieder erhoben, die Erbschaftsteuer | |
reformiert, der Spitzensteuersatz und die Körperschaftsteuer müssen erhöht, | |
eine Finanztransaktionssteuer muss eingeführt werden. | |
Die verteilungspolitischen Nebenwirkungen sind ausdrücklich erwünscht: | |
Schulden stehen immer Vermögen gegenüber. Das private Nettovermögen ist | |
fast fünfmal so groß wie die gesamte Staatsverschuldung. Und die Gläubiger | |
unserer Republik leben nicht im Ausland. Die Eigentümer deutscher | |
Staatsanleihen sitzen in den Frankfurter und Münchner Glaspalästen, am | |
Starnberger See, in Hamburg-Blankenese oder in Berlin-Dahlem. Diese | |
Profiteure der Krise müssen nun dazu verpflichtet werden, einen Teil der | |
Krisenlasten zu schultern. Wenn hierzulande der Gürtel nicht mehr enger | |
geschnallt wird, dann profitieren auch unsere Nachbarn. Sobald der größte | |
Binnenmarkt des alten Kontinents wächst, können auch Athen, Rom und Madrid | |
wieder mehr Waren im Ausland absetzen und somit die Krise überwinden. | |
Verzicht und falsche Bescheidenheit gefährden die wirtschaftliche und | |
soziale Zukunft Europas. Deswegen ist der gewerkschaftliche Protest und | |
Widerstand gegen die europäische Streichideologie schlicht ein Ausdruck | |
ökonomischer Vernunft. | |
23 Sep 2010 | |
## AUTOREN | |
Dierk Hirschel | |
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