# taz.de -- Schmacht-Musik aus Argentinien: "Gott hat noch nie geküsst" | |
> Schluss mit harter Rockmusik. In Argentinien haben die Singer-Songwriter | |
> wieder Konjunktur. Und das liegt nicht nur an einem abgefackelten Club | |
> mit 194 Toten. | |
Bild: Unplugged in Argentinien: die Singer-Kultur erlebt einen neuen Aufschwung. | |
Ein Mann sitzt allein auf dem Bühnenrand, ohne Verstärker und Begleitung | |
stimmt er ein Lied an. Das Publikum verstummt. "Gott hat mich um einen Kuss | |
gebeten", singt er. "Ich nähere meinen Mund. Er küsst ihn nicht, / berührt | |
ihn nicht, / Gott hat noch nie geküsst, / obwohl er so sehr geliebt wird." | |
Der Mann, der dies mit einer durchdringenden, modulierenden Stimme | |
vorträgt, heißt Gabo Ferro. Er stellt an diesem Abend im ND/Ateneo-Club im | |
Microcentro von Buenos Aires sein neues Album, "Amar, Temer, Partir", vor. | |
Der Sänger aus Buenos Aires ist Teil eines Phänomens der aktuellen | |
argentinischen Musik, das lokale Musikkritiker als nueva canción urbana | |
(neues urbanes Lied) beschreiben. Singer-Songwriter wie Pablo Dacal, | |
Coiffeur, Florenica Ruíz und Lisandro Aristimuño oder Bands wie Rosal und | |
FlopaManzaMinimal gehören dazu. | |
Doch wie kam es ausgerechnet in Argentinien, dem Land mit der großen, | |
harten, männlichen Rocktradition, zum Boom akustischer oder leicht | |
verstärkter Rockmusik? Nun, die Rockästhetik insgesamt schien bereits | |
Anfang der 2000er Jahre in eine Krise geraten zu sein. Bands des | |
dominierenden Genres "Rock chabón" ("Kerlsrock") füllten ganze Stadien. | |
Ihre Musik erschöpfte sich in machistischen Posen und klischeehaften Riffs. | |
Eine der größten Bands, Las Viejas Locas, stand für die immer gleiche | |
Mischung aus Drogen, Bier, Fußball und Neighbourhood - ein bisschen | |
rassistisch, ein bisschen sexistisch. Doch nach der Reform des "Código de | |
Convivencia Urbana" (Normen des Städtischen Zusammenlebens) 1998, der bis | |
dato Homosexualität in der Öffentlichkeit verboten hatte, wurden auch | |
queere und andere Formen der Männlichkeit in der Öffentlichkeit sichtbarer. | |
Neue Bands widersprachen den Männlichkeitskonstruktionen des "Rock Chabón", | |
dekonstruierten seine Authentizitätsmythen und betonten stattdessen | |
Konstruiertheit und Künstlichkeit des Pop. | |
Die Schließung der Clubs | |
Hinzu kam ein tragisches Ereignis, das die argentinische Musikszene stark | |
veränderte. Ende 2004 brannte der Club República Cromañón in Buenos Aires. | |
Die Rockband Callejeros spielte, und einige der Fans wollten auf das Ritual | |
des Abfackelns von Feuerwerkskörpern in dem geschlossenen Raum nicht | |
verzichten. | |
Die Decke des Clubs war mit Planen aus leichtentzündlichen Stoffen | |
abgehängt, die in Flammen aufgingen, 194 Menschen starben. Mehr als 700 | |
wurden verletzt, der Notausgang war vom Veranstalter blockiert. Omar | |
Chabán, Betreiber des Clubs, hatte befürchtet, dass sich durch den | |
Notausgang Fans ohne Tickets in den Club schmuggeln könnten. | |
Die Behörden von Buenos Aires, die jahrelang derartige Praktiken toleriert | |
hatten und bei Prüfungen meist - gegen eine kleine "Aufwandsentschädigung" | |
- von Weiterem absahen, mussten reagieren. Viele kleinere und mittlere | |
Clubs wurden geschlossen. | |
Übrig blieben vor allem größere Locations, die sich die aufwendigen | |
Sicherheitsmaßnahmen leisten konnten. Auch der damalige Bürgermeister | |
Aníbal Ibarra (vom Mitte-links-Bündnis Allianza) wurde infolge der | |
Brandkatastrophe im Club "Cromañón" 2006 vom Dienst suspendiert. | |
Der heute amtierende rechte Bürgermeister Mauricio Macri fährt auch gegen | |
die Subkultur eine Politik der harten Hand und tut alles dafür, jegliche | |
kulturelle Initiative zu unterminieren. Das kommt bei der Mehrheit der | |
Wähler an. | |
So entstand nach Cromañón ein Vakuum. Es fehlten Orte für Auftritte. Und | |
viele der meist jungen Bands machten aus der Not eine Tugend. Sie packten | |
ihre akustischen Gitarren wieder aus, spielten eine leise, doch vielfältige | |
Musik mit intimen Texten. | |
Sangen über Beziehungen und Alltagsbeobachtungen, die bedienten sich dabei | |
auch an den Wurzeln des argentinischen Rocks. Einflüsse von Los Abuelos de | |
la Nada, Luis Alberto Spinetta oder Charly García sind hörbar, von Folk | |
(Chamame und Zamba), aber auch Tango. | |
"Der Tango", sagt María Ezquiaga, Sängerin der Band Rosal, "ist kein | |
bewusster Einfluss, er ist einfach da. Wenn ich das Radio einschalte und | |
irgendeinen Tango höre, dann weiß ich sofort den Text, weil mein Großvater | |
immer Tango gehört hat." | |
Nach Cromañón, sagt der Musikkritiker Juan Andrade, bedeutete, eine Gitarre | |
einzustöpseln, so etwas, wie eine Waffe zu laden. Es war für Newcomer sehr | |
schwierig, Auftritte zu bekommen. Die wenigen Clubs, die offen blieben, | |
waren für 1.000 und mehr Gäste ausgerichtet. | |
Die neuen Singer-Songwriter spielten so in Centro Culturales oder Bars wie | |
Ultra Bar, Le Bar, El Emergente oder Libario, kaum mit Verstärkern und | |
oftmals ohne Schlagzeug. Nach Kritiker Andrade begründeten Bands wie das | |
Trio FlopaManzaMinimal mit ihren Auftritten dieses neue Genre, den canción | |
urbana rockera acústica (das "urbane akustische Rocklied"). | |
FlopaManzaMinimal bestritten ihre Konzerte mit drei Gitarren und ihren | |
Stimmen. Sie stehen für eine innovative Mischung aus Tango, Folklore und | |
Rockmusik. | |
Ähnlich auch Gabo Ferro. In den Neunzigern war er Frontmann der | |
Hardcoreband Porco. Mitten in einem Auftritt im Hotel Bauen versagte ihm | |
buchstäblich die Stimme. Er verließ die Bühne für Jahre. 2005 meldete er | |
sich zurück als Solist mit dem Album "Canciones que un hombre no debería | |
cantar" ("Lieder, die ein Mann nicht singen sollte"). | |
Der Titel bezieht sich auf einen Ausspruch von Edith Piaf, die Jacques Brel | |
1959 kritisierte, als sie sein Lied "Ne me quitte pas" gehört hatte. Ferro | |
sieht seine Musik auch als ein Medium, um genderpolitisch Stellung zu | |
beziehen. Das Label "gay" lehnt er jedoch ab, mit etwas kruden Statements | |
zu den USA. "Gay" sei ein Konzept der "Gringos und Yankees" meint der | |
argentinische Musiker. In "Niño costurera, niña carpintero", singt Ferro: | |
"Wenn ich groß bin, werde ich sein / ein wunderbarer Zimmermann, / ein | |
mächtiger Mann mit ruhigem Blick / mit dem Körper eines neugierigen und | |
aufmerksamen Mädchens." | |
Neuer Markt, neue Musik | |
Auch Pablo Dacal gehört zur neuen Musikergeneration. In Buenos Aires tritt | |
er schon mal mit einem ganzen Salonorchester auf. Auf seinen Touren durch | |
Europa beschränkt er sich auf eine Solo-Perfomance: Gesang und Gitarre, ab | |
und an unterstützt von einem befreundeten Musiker. Dacal ist überzeugt, | |
dass sich in Argentinien gerade eine sehr bedeutende Rockmusikbewegung | |
konsolidiert: "Ich habe mit allen neuen Singer-Songwritern gespielt und | |
gesungen, die neue Welle ist begeisternd." | |
Begünstigt wird die neue Entwicklung auch durch die veränderten | |
Einnahmebedingungen der Musiker. Der Markt für Tonträger ist auch in | |
Südamerika völlig eingebrochen. In den Zeiten von von MP3-Downloads werden | |
die mit Livekonzerten eingenommenen Eintrittsgelder immer bedeutender. | |
Ferro hat ein komplettes Album gleich ganz ohne Label veröffentlicht und | |
verkauft seine CDs direkt über die Auftritte. | |
"Wir sind unabhängige Künstler", sagt Ferro, "und haben keine große | |
Labelstruktur im Rücken." Er könne sein Publikum auch so erreichen: "Ich | |
bin in Uruguay aufgetreten, wo bislang nichts von mir erhältlich war, aber | |
die Sala Zitarrosa in Montevideo war dennoch schon eine Woche vorher | |
ausverkauft." | |
Anders als Ferro veröffentlichen Dacal oder Lizandro Aristimuño auf | |
Indie-Labeln wie Vinagreberry Fields oder Los Años Luz Discos, die ihnen | |
aber die künstlerische Kontrolle überlassen. Aristimuño ist vielleicht der | |
innovativste unter den neuen Singer-Songwritern. In Viedma in der | |
südargentinischen Provinz Río Negro geboren, lebt er seit einigen Jahren in | |
Buenos Aires. | |
Die argentinische Hauptstadt ist immer noch kultureller Magnet des Landes. | |
Aristimuño hat aus Patagonien ein sehr feines Gehör mitgebracht. Seine | |
Lieder oszillieren zwischen Elektronik und Folk, ein unvergleichliches | |
Amalgam, über das sich Aristimuños Falsettstimme legt. | |
In "Para vestirte hoy" ("Um dich heute anzuziehen") heißt das so: "Im Meer | |
aufwachen und der graue Schaum sein, / das Lied nackt machen, um dich heute | |
anzuziehen." | |
Das Lied, wie Aristimuño es versteht, ist ein Gewand, das einen durch den | |
Tag trägt. So wollen sie verstanden werden, die neuen argentinischen | |
Songwriter: Alltagsbegleiter, die auf den Reichtum der Klänge hinweisen und | |
vorschnelle Stereotype hinterfragen. Kleine Geschichten, Träume und | |
Leidenschaften, die im repressiven Klima der Hauptstadt Buenos Aires | |
patagonische Weiten erahnen lassen. | |
Gabo Ferro: "El hambre y las ganas de comer" (mit Texten des | |
Schriftstellers Pablo Ramos) | |
Pablo Dacal kommt im Oktober und November nach Deutschland | |
24 Sep 2010 | |
## AUTOREN | |
Timo Berger | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024 | |
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