# taz.de -- Debatte Sozialer Rassismus: Im brutalen Wettbewerb | |
> Statt über Gott, Gene und Kopftuch zu diskutieren, sind in der harten | |
> sozialen Welt wirtschaftspolitische Visionen gefragt. Wir brauchen ein | |
> gesellschaftliches Gesamtprojekt. | |
Bild: Alles andere als verweigert: muslimischer Fan des deutschen Fußballs. | |
Die die Republik derzeit erneut umtreibende Integrationsdebatte ist ein | |
Symptom einer Aufspaltung der Gesellschaft. Sie begann Ende der 1960er | |
Jahre. Damals war von Gammlern, Rockern und Hippies die Rede. Wer nach dem | |
Ende der Wirtschaftswunderjahre aus dem hegemonialen Konsens ausscherte, | |
musste mit harten Sanktionen rechnen: Polizeiknüppel, Berufsverbote, | |
Bild-Zeitungs-Hetzkampagnen. Hassprediger, Kopftuchprobleme und Burka waren | |
damals noch kein Thema. | |
Das Vermummungsverbot richtete sich gegen die "arbeitsscheuen | |
Berufsdemonstranten", gegen "Integrationsverweigerer" in besetzten Häusern. | |
Liberale Politiker suchten den "Dialog mit der Jugend", während die | |
Hardliner mit Hilfe des Terrorparagrafen 129a eine flächendeckende | |
Einschüchterung durchzogen. | |
Leitkultur ist per se exklusiv | |
Früher wie heute geht es um die Ressentiments gegenüber | |
Parallelgesellschaften, die zu leugnen keinen Sinn macht. Da scheren Leute | |
aus, missachten "die guten Sitten und Gebräuche" der Mehrheit, vielleicht | |
strafen sie die "deutsche Leitkultur" sogar mit Hohn und Verachtung. | |
Diesen kulturellen Minderheiten eine Integrationsverweigerung vorzuwerfen, | |
verkennt allerdings deren innere Struktur. Denn diese Gruppen tun in ihren | |
Milieus nichts anderes, als sich zu integrieren. Wer exklusive Subkulturen | |
errichtet, schließt den Rest der Gesellschaft von der Teilhabe darin aus | |
und bleibt selber in seiner kleinen Welt mit sich identisch. Das ist | |
Integration. | |
Für die Mehrheitsgesellschaft erscheint dies hingegen als | |
Integrationsverweigerung, denn in der abgeschotteten Parallelwelt darf sie | |
nicht mitspielen, diese entzieht sich damit der genaueren Kontrolle durch | |
die Mehrheit. Das wiederum führt zu Kämpfen um die Gültigkeit | |
gesamtgesellschaftlicher Regeln, und diese werden nicht selten brutal | |
ausgetragen. Das schlichte Gemüt fürchtet nichts mehr als den Widerspruch | |
zum "Hier ist es nun mal so". Das gilt für religiöse Dogmatiker wie für | |
Leitkulturapostel gleichermaßen. | |
Beide stehen heute vor einem riesigen Problem: Die geschlossene Anstalt, | |
auf der ihr Weltbild basiert, hat sich längst aufgelöst. Die riesigen | |
Fließbandhallen, Bergwerke und Verwaltungsbürokratien, die einst | |
lebenslange Arbeit und starre Regeln garantierten, haben in den vergangenen | |
Jahrzehnten ihre Insassen entlassen. "Schlanke Belegschaft" und "schlanker | |
Staat" können das breite gesellschaftliche Ganze nicht mehr erfassen. Sie | |
öffnen Räume für Subkulturen oder Parallelgesellschaften: | |
Langzeitstudenten, Drückeberger, Sozialhilfearistokratie, Hartzer und jetzt | |
auch die muslimischen Integrationsverweigerer. | |
Stigmatisierte Gruppen dieser Art gehören zum wirtschaftlichen Kalkül dazu, | |
weil ihre potenziellen Arbeitsplätze dem Renditegebot geopfert werden | |
mussten. Politisch sind sie nützlich, weil ihnen der ökonomisch bedingte | |
Zerfall dieser Gesellschaft als persönliche Schuld und perfide Absicht | |
zugeschrieben werden kann. Zur Integration gehört stets auch der | |
Ausschluss: die Außenstehenden, von denen sich die integere Gemeinschaft | |
abgrenzt und mit sich selbst zusammenschließt. Ohne Außen gibt es kein | |
Innen. | |
Die "neue Mitte" ist arg blass | |
Was Innen und was Außen ist, wird dabei immer fragiler. Wer gehört | |
überhaupt noch dazu und wozu eigentlich? Die vielzitierten Abstiegsängste | |
der Mittelschicht lassen das Phantom der "neuen Mitte" verblassen. Zwischen | |
etablierter Kernbelegschaft und prekärem Jobbermilieu werden die Grenzen | |
flüssiger. Mit gemeinsamen Genen, Abstammungen und Religionen lassen sich | |
da ersatzweise neue Grenzen ziehen, um die neue Unübersichtlichkeit | |
vordergründing überschaubar zu machen. | |
Der gemeinsame Gott des alten Kapitalismus war, wie Max Weber bereits | |
erkannte, der Tendenz nach protestantisch. Jeder hatte an seinem von oben | |
zugewiesenen Platz seine Arbeit zu verrichten: pünktlich, sauber und | |
korrekt. Stetiger Lebenswandel und "innerweltliche Askese", Fleiß und | |
Bedürfnisaufschub waren allgemeingültige Werte, die eine Zeit lang zu | |
vorzeigbaren Erfolgen führten. | |
Das von Bismarck eingeleitete solidarische Sozialsystem sollte Unruhen | |
verhindern und die Parallelgesellschaften der Klassen in ein Gesamtsystem | |
integrieren. Das funktionierte über lange Zeiträume hinweg erfolgreich. In | |
den großen Anstalten der Wirtschaft und Verwaltung relativierten sich | |
kulturellen Differenzen gegenüber der gemeinsamen Beziehung, die die | |
Menschen dauerhaft eingehen mussten. | |
Gene als letzte Hoffnung | |
An die Stelle von Beziehungen sind im flexiblen Kapitalismus | |
"Transaktionen" zwischen den Menschen getreten, meint Finanzguru George | |
Soros, der dies von der Börse her kennen muss. Tatsächlich werden | |
Verbindungen zunehmend brüchiger. In befristeten Arbeitsverhältnissen | |
entwickelt sich keine tiefere Zugehörigkeit, Minijobs schaffen keine | |
Bindung und Hartz IV kein Klassenbewusstsein. | |
Auch wer regelmäßig arbeitet, kennt häufig weniger die Belegschaft als | |
vielmehr die temporären, projektbezogenen Teams, die oft sogar miteinander | |
konkurrieren. Der Bismarcksche Konsens wird durch die schrittweise | |
Privatisierung der Sozialversicherungen aufgelöst, Integration verweigert. | |
Das Problem ist bekannt: Der flexible Kapitalismus entlässt seine Insassen | |
in die Unsicherheit, in einen kaum abgefederten ökonomischen Existenzkampf, | |
den brutalen Wettbewerb. Exklusive Subkulturen versprechen in einer | |
chaotischen Welt klare Orientierungen. Autoritäre Familienbanden sind die | |
letzten geschlossenen Anstalten, die repressive Sicherheit verbürgen. Eine | |
genetisch konstruierte Volksgemeinschaft ersetzt den calvinistischen | |
Glauben an die Gnadenwahl. Wer das richtige Gen besitzt, darf Hoffnung | |
schöpfen. | |
Statt über Gott, Gene und Kopftuch zu diskutieren, sind in der harten | |
sozialen Welt jedoch wirtschaftspolitische Visionen gefragt, große | |
Entwürfe, die nach dem Bankrott des neoliberalen Projekts wieder das Wohl | |
aller zum Inhalt haben. Wir brauchen ein neues gesellschaftliches | |
Gesamtprojekt. Wer über Integration reden will, darf über den Kapitalismus | |
nicht schweigen. | |
24 Sep 2010 | |
## AUTOREN | |
Rainer Kreuzer | |
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