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# taz.de -- Winfried Kretschmann: Der grüne Moses
> Die Grünen in Baden-Württemberg liegen in Umfragen mit der SPD gleichauf.
> Winfried Kretschmann könnte bei der Landtagswahl 2011 der erste grüne
> Ministerpräsident werden.
Bild: Winfried Kretschmann.
STUTTGART taz | Als vonseiten der CDU mal wieder der "Konservativismus"
beschworen wurde, ohne ihn näher zu definieren, erklärte Winfried
Kretschmann den Kollegen im Landtag, was für ihn konservativ ist. Nämlich:
"Dinge, die man schon seit Menschengedenken für richtig gehalten hat."
Ministerpräsident Stefan Mappus habe aufgehorcht und gemurmelt: "Des muss
ich mir merken."
Kretschmann grinst. Der Fraktionsvorsitzende der Grünen im
baden-württembergischen Landtag sitzt in seinem Büro und hat auch Positives
über Mappus zu sagen, über dessen Verlässlichkeit und
Durchsetzungsfähigkeit. Diese Geschichte indes deutet darauf hin, dass er
ihn nicht gerade für einen Inhaltisten oder Superintellektuellen hält. Oder
gar für einen überzeugten Konservativen.
Ein paar Schritte entfernt vom Landtag versammeln sich gerade wieder
tausende Stuttgarter Bürger an der inzwischen abgerissenen Nordseite des
Hauptbahnhofs, um ein weiteres Mal den Baustopp des milliardenteuren
Bahnprojekts "Stuttgart 21" zu verlangen. "Mit mir gibt es keinen
Baustopp", sagt Mappus. Damit hat der Ministerpräsident, wie selbst die
Stuttgarter Zeitung meint, "sein politisches Schicksal mit Stuttgart 21
verknüpft".
Einerseits droht die Protestbewegung ihren friedlichen Charakter zu
verlieren, andererseits droht ein Erdbeben bei der Landtagswahl am 27.
März. Die CDU als glaubwürdige Stuttgart-21-Partei ist in Umfragen auf bis
zu 35 Prozent gefallen, die Grünen liegen dank ihrer Glaubwürdigkeit von 15
Jahren Gegnerschaft bei bis zu 27 Prozent. In diesem Szenario würde künftig
regieren, wer die SPD als Juniorpartner gewinnt. Kretschmann statt Mappus?
Es sei derzeit auch für ihn noch "etwas verrückt, wenn man als
Ministerpräsident gehandelt wird", sagt Kretschmann.
Seit Monaten wird von Renate Künast als möglicher grüner Bürgermeisterin
von Berlin geredet, aber die kandidiert bisher nicht einmal. Und nun könnte
Kretschmann den großen Befreiungsschlag landen? Das muss nicht mal das
höchste Amt sein, das könnte auch darin bestehen, die SPD als Nummer 2
abzulösen. Ausgerechnet Kretschmann, 62, der noch nicht mal in der
Bundespartei ein Big Shot ist - und der früher beinahe mal aus der Partei
geflogen wäre.
Die Zahlen seien "volatil", heißt es bei den Grünen. Zwar ist man in
Stuttgart seit der letzten Kommunalwahl dank Stuttgart 21 die Nummer 1,
aber auf dem Land sieht es anders aus. Und noch weiß keiner, wie weit der
Bahnhofskampf wirklich tragen wird. Kretschmann will daher nicht als
offizieller grüner Kandidat für das Ministerpräsidentenamt antreten. "Wenn
die Umfragen sechs Wochen vor der Wahl so wären, dann käme man nicht drum
rum."
In einer aktuellen Umfrage liegen die Grünen bundesweit mit der SPD
gleichauf bei 24 Prozent, weshalb die Frage der "Volkspartei" für manche
wieder im Raum steht. Für Kretschmann nicht. "Volkspartei" sei angesichts
des gesellschaftlichen Wandels grundsätzlich ein Begriff der Vergangenheit
wie auch "Volkskirche". Klar wolle man weiterhin stärker werden, aber als
Massenpartei funktionierten die Grünen nicht. Mangels Fähigkeit zum
Populismus. Sagt er wirklich. Offenbar ist er selten am Bahnhof, wenn die
grünen Kollegen dort die Massen scharfmachen. Grundsätzlich hält er im Bund
20 Prozent für möglich.
Keine Massenpartei
Die CDU regiert seit 60 Jahren, derzeit mit der FDP. Aber von der spricht
keiner. Die Grünen sind seit 30 Jahren im Parlament, also in der
Opposition. Die führenden Grünen der Gründungsgeneration - Rezzo Schlauch
und Fritz Kuhn, auch Reinhard Bütikofer und Birgitt Bender - zogen nach
Berlin. Die der nächsten und übernächsten Politikergeneration - Dieter
Salomon und Boris Palmer - wurden Oberbürgermeister in Freiburg und
Tübingen. Der Parteivorsitzende Cem Özdemir übersprang den Landtag.
Kretschmann blieb.
"Dass er blieb, sagt viel über ihn aus", heißt es. Er sei keiner für die
Berliner Politik der permanenten Winkelzüge. Sondern seriös. Mit
intellektueller Substanz. Leider "zu ehrlich". Kretschmann galt immer als
Prototyp des "bürgerlichen Baden-Württemberg-Grünen". Er ist
praktizierender Katholik, er kommt aus dem Oberland, er war Oberstudienrat
für Ethik. Trotz kommunistischer Vergangenheit: Ein grüner Linkspopulist
ist er definitiv nicht.
Den Ruf als "Ober-Schwarz-Grüner" habe er trotzdem "fälschlicherweise weg",
sagt er. Schwarz-Grün sei die einzige mathematische Option gewesen in einem
Land, in dem Rot-Grün noch nie eine Machtperspektive hatte - dafür war die
SPD traditionell zu schwach. Aber auch dieses Mal geht definitiv nichts mit
Schwarz-Grün. Weil - und das ist für Kretschmann der Hintergrund des
Streits über Stuttgart 21 - zwei Politikverständnisse aufeinandertreffen,
zwei Vorstellungen von Modernisierung und von einer bürgerlichen
Gesellschaft. Ist es "konservativ", den Bahnhof zu behalten, oder
konservativ, ihn abzureißen? Egal was der eine sagt, der jeweils andere
versteht nur Bahnhof.
Wie jeder Politiker redet auch Kretschmann wie ein Buch, aber selten laut
und kaum in Parolen. Wenn er zuspitzt, sagt er, dass er jetzt zuspitzt.
Aber dann legt er stets einen Satz nach, der der Sache wieder die Spitze
nimmt. Grade sagt er: "Ich vereinfache jetzt. So dumm, wie ich die CDU
darstelle, sind die in Wirklichkeit auch nicht." Vereinfacht baut die CDU
Großprojekte mit Geld, das man nicht hat, weil sie sich daran berauscht.
Was gut ist für das Land, weiß sie am allerbesten. Sieht der Bürger das
nach 60 Jahren plötzlich anders, kriegt er eins auf die Tatzen, bis Ruhe
ist. Kurz: Die CDU und ihr Mappus hätten nach der Atomkraft auch diesen
Schuss nicht gehört, glaubt Kretschmann, nämlich veränderte Vorstellungen,
wofür man Geld ausgeben soll, von Fortschritt sowie das starke Bedürfnis
nach Partizipation in politischen Prozessen. Dadurch habe die CDU "weite
Teile des modernen Bürgertums verloren".
Der Kampf um den Bahnhof, der Volksentscheid zur Verhinderung der
verlängerten Grundschule in Hamburg (er nennt es "unsere Niederlage"),
populistische Parteien in Europa: "Das ist ein Ausdruck, dass zwischen den
politischen Institutionen und der Gesellschaft Brüche entstehen." Die
Entmachtung der Parlamente zugunsten von Regierungen und Parteien ist eines
seiner großen Themen. Im Stuttgarter Landtag ist das so: "Es geht nie ein
Gesetz anders raus, als es reinkommt". Das muss einen Oppositionspolitiker
frustrieren, aber das hat die Leute bisher nicht wirklich geschert.
Kretschmann hält es für einen der "Brüche", die dazu geführt haben, dass
Bürger ihre Pflichten mit dem Wahrnehmen des Wahlrechts nicht mehr für
erledigt halten. Instrumente für Bürgerbeteiligung müssten her, "um das
über den Stuttgart-21-Konflikt hinaus in den politischen Prozess zu
integrieren". Kretschmann wirkt im Land und auch auf dem Land weniger über
Papierkorbentwürfe im Parlament denn über seine Auftritte als
nachdenklicher Redner jenseits des kurzatmigen Tagesgeschäfts. So könnten
sich Weggefährten ihn auch als Ministerpräsident vorstellen. Präsidiale
Einwürfe statt Mappus-Action.
Keine Kompromisse mehr
Allerdings sollte man nicht naiv annehmen, dass im Protestrausch die
Ökonomie komplett in den Hintergrund tritt. "Die CDU hat hier so lange
regiert, weil sie für wirtschaftliche Prosperität steht, nicht weil die
Schwaben und Badener konservativer sind als andere Populationen in
Deutschland", sagt Kretschmann. Er preist das grünen Denken des
Mittelstands, wo man inzwischen viel näher am Green New Deal sei als an der
CDU. Aber es wird nicht einfach, einerseits nah am Bürgerprotest zu bleiben
und andererseits sich nicht darauf zu reduzieren. Weder CDU noch Grüne
können in Sachen Stuttgart 21 noch Kompromisse eingehen.
Der CDU haben die Grünen lange keine Sorgen gemacht. So wie es nun
aussieht, ist man richtig besorgt. "Mappus geht der Arsch auf Grundeis",
sagt ein gut vernetzter Politbeobachter. Es ist Mappus' erste Wahl.
Verliert er, kann er nach Hause fahren. Also nach Pforzheim. Der Einkauf
von Roland Kochs Intimus Dirk Metz gilt als Indiz, dass es rau werden wird.
So sieht man bei den grünen Spindoktoren die CDU-Wahl- und
Kommunikationsstrategie: die Grünen in die linksradikale, demokratie- und
modernisierungsfeindliche Ecke stellen, damit ihre neue Kundschaft es mit
der Angst kriegt.
Das Argument, sich als Demokrat an Mehrheitsbeschlüsse halten zu müssen?
Bitte, sagt Kretschmann, er sei seit 30 Jahren Opposition. "Wenn wir hier
etwas gewohnt sind, dann ist es, Mehrheitsbeschlüsse am Fließband zu
akzeptieren." Es wird eine Frage des Wahlkampfs sein: Wollen die Leute eine
Demokratie, in der man sich an alle Mehrheitsbeschlüsse der Parlamente
gefälligst hält - oder in begründeten Ausnahmefällen auch mal nicht? Eine
andere: Wer ist der progressive Konservative für das 21. Jahrhundert -
Mappus oder Kretschmann? Oder keiner von beiden?
Wenn Winfried Kretschmann ein Bonmot gelingt, dann geht ein Teil oft
selbstlos auf seine Kosten. Einmal hat er sich in Anspielung auf das Alte
Testament als "Moses" bezeichnet, der die Israeliten durch die Wüste der
Opposition zwar ins Gelobte Land Kanaan, also in die Regierung führe, es
selbst aber nicht mehr erreiche. Moses sieht Kanaan vom anderen Ufer des
Jordan und stirbt dann. Gilt das noch? Kretschmann lacht. "Im Moment könnte
ich es ins Gelobte Land schaffen." Pause. Dann sagt er: "Aber auch da ist
jede Menge Wüste."
30 Sep 2010
## AUTOREN
Peter Unfried
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