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# taz.de -- "Goethe" in Görlitz: Die Babelsberger Außenstelle
> Die Stadt Görlitz am südöstlichen Zipfel der Republik eignet sich mit
> ihren zahlreichen historischen Gebäuden hervorragend als Filmkulisse.
Bild: Künstlicher Schnee bedeckt den Untermarkt in Görlitz bei den Dreharbeit…
Fast drei Jahre danach ist Heidi Ullrich aus Görlitz noch immer ganz
aufgewühlt, wenn sie über das spricht, was sie als "schlimmen Schock"
bezeichnet. Im "Vorleser", der Hollywood-Verfilmung des gleichnamigen
Romans von Bernhard Schlink, spielte sie eine Blumenhändlerin. Zwar nur für
ein paar Sekunden, aber doch lange genug, um einem gewöhnlichen Leben eine
außergewöhnliche Episode beizufügen.
Und dann das: Heidi Ullrich sitzt zur Filmpremiere im Görlitzer Kino, unter
der versammelten Prominenz, und wird von Minute zu Minute unruhiger. Am
Ende weint sie: Die Szene, in der sie dem männlichen Hauptdarsteller David
Kross eine Rose verkauft, die der seiner Geliebten Kate Winslet schenken
will, sie wird nicht gezeigt. Stephen Daldry, der Regisseur, hatte sie
herausgeschnitten.
"Hach, das war schrecklich", seufzt sie. Ihrem Sohn, ihrer Tochter, ihren
Freunden, ihren Bekannten hatte sie damals im Herbst 2007 voller Euphorie
erzählt, dass sie jetzt berühmt sei, in einem Hollywoodfilm als Komparsin
mitspiele.
Bild hatte von ihr berichtet, ebenso das Lokalradio. Die Sächsische Zeitung
bildete ihr glückliches Gesicht sogar auf die Titelseite ab. Und dann ging
die Welt unter. Die Zeitungsausschnitte hat sie dennoch allesamt verwahrt,
als Andenken an eine besondere Erfahrung.
In Görlitz haben viele Einwohner ihre ganz persönliche Hollywood-Geschichte
zu erzählen. Die Stadt an der Neiße hat sich in den vergangenen Jahren zum
Drehort großer Filmproduktionen entwickelt.
Ihre sensationelle Kulisse mit Renaissancegebäuden, Barockbauten oder
Gründerzeithäusern lässt die Stadt wie einen historischen Themenpark
erscheinen, in der sich jede Epoche nachspielen lässt. Zur Freude der
Location-Scouts - jener Filmschaffenden, die Drehorte auskundschaften -
gibt es im Stadtkern keine moderne Architektur, die die Authentizität
stören könnte.
"Der Vorleser" erweckte das Nachkriegsdeutschland der 50er Jahre zum Leben.
Kult-Regisseur Quentin Tarantino ließ im November 2008 für eine Schießszene
in seinem Anti-Nazi-Film "Inglourious Basterds" die apokalyptische
Atmosphäre des Zweiten Weltkriegs wiederauferstehen.
In der Jules-Verne-Verfilmung "In 80 Tagen um die Welt" ahmte 2003 eine
Filmcrew um Action-Star Jackie Chan die Welt des ausgehenden 19.
Jahrhunderts nach. Und vor kurzem machte das deutsche Drama "Goethe!" das
späte 18. und das frühe 19. Jahrhundert wieder lebendig, die Ära der
deutschen Dichter und Denker.
Begegnungen mit Stars gehören für die Görlitzer beinahe zum Alltag. Kathrin
Horschig, Leiterin des Schuhhauses Leiser am Postplatz, hat Kate Winslet
während der "Vorleser"-Dreharbeiten Stöckelschuhe verkauft.
Der Kellner Diego Kudßus hat Quentin Tarantino und Daniel Brühl,
Nebendarsteller bei "Inglourious Basterds", im Restaurant Lucie Schulte ein
Abendmenü aufgetischt. Dort entpuppte sich Tarantino als schräger
Historien-Sammler: Als er von der Toilette zurückkehrte, wollte er 4.000
Dollar für eine Stahltür bezahlen, die er im Keller entdeckt hatte und die
Teil eines noch erhaltenen Luftschutzbunkers war. Der Restaurant-Chef
lehnte ab.
Der Galerist Eberhard Klinger mimte als Komparse bei "In 80 Tagen um die
Welt" einen Edelmann mit Zylinder auf dem Kopf, der als Passant immer
wieder durchs Bild flanierte. "Warten, warten, warten, bis meine Szene
drankam", das war die bleibende Erinnerung an den Job. "Unendlich viel
Spaß" hat es aber dennoch gemacht.
Der Filmglamour stärkt das Selbstbewusstsein der Stadt. Görlitz macht
allenfalls Schlagzeilen wegen seiner vielen Arbeitslosen und wegen all der
jungen Menschen, die abwandern. Da sind positive Nachrichten begehrt.
Deshalb bemüht sich die Stadtverwaltung darum, Filmunternehmen wie dem
Studio Babelsberg eilfertig zu assistieren, wenn von dort mal wieder ein
Location-Scout ausschwirrt. Sofort stehen die Mitarbeiter vom
Liegenschaftsamt parat, um gemeinsam passende Kulissen zu finden.
Es ist aber nicht nur die Bausubstanz, von der sich die Regisseure und ihre
Crews angezogen fühlen. Auch die abgeschiedene Lage im östlichsten Winkel
Deutschlands macht einen guten Teil des Görlitzer Charmes aus. "Hier
herrscht kein Trubel wie in der Großstadt", sagt Kerstin Gosewisch, die
Medienreferentin der Stadt.
"Die Filmteams können ihre Arbeit machen, ohne gestört zu werden." Die Ruhe
auf den Straßen, die damit zu tun hat, dass die Stadt seit der Wende ein
Viertel ihrer Bevölkerung verloren hat, birgt zumindest diesen Vorteil.
Die Stille gilt übrigens nicht für die Gegend rund um den Postplatz: Dort
steht Heidi Ullrich, verkauft Abos der Sächsischen Zeitung und redet mit
Passanten. Auf ihre verhinderte Hollywood-Karriere wird sie nur noch selten
angesprochen.
30 Sep 2010
## AUTOREN
Philipp Wurm
## TAGS
Reiseland Deutschland
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