# taz.de -- Die Krise der Sozialdemokratie: Ich fühl mich so sozial | |
> Der lange Weg in die Mitte der Gesellschaft hat die Sozialdemokratie als | |
> soziale Bewegung abgeschafft. Solidarität war nur ein nützlicher Slogan. | |
Diesen Monat gab es für die Sozialdemokratie weltweit zwei entscheidende | |
Ereignisse. In Schweden erlitten die Sozis am 29. September eine böse | |
Niederlage. Sie kamen nur noch auf 30,9 Prozent der Stimmen, das ist das | |
schlechteste Ergebnis seit 1914. Erstmals wurden sie von einer | |
rechtskonservativen Partei auf die Plätze verwiesen. Und um das | |
Schreckenszenario abzurunden, zog auch noch die rechtsradikale | |
Anti-Migranten-Partei gleichfalls zum ersten Mal ins Parlament ein. | |
Tod des Musterschülers | |
Warum ist das so dramatisch? Schweden war es in der Vergangenheit gelungen, | |
eine effektive egalitäre Umverteilungspolitik mit einer demokratischen | |
Innenpolitik zu verbinden. Zumindest seit 1930 waren die Skandinavier damit | |
weltweit die Musterschüler der Sozialdemokratie. Dabei blieb es - bis | |
jetzt. Jetzt gibt es kein Vorzeigekind mehr. | |
Derweil wurde in Großbritannien am 25. September der Hinterbänkler Ed | |
Miliband zum Chef von Labour gewählt. Bekanntlich hat Tony Blair die Partei | |
in seiner Amtszeit radikal neu orientiert: Es entstand New Labour. Auch | |
Blair wollte, dass die Partei den Mittelweg einschlägt - allerdings nicht | |
zwischen Kapitalismus und Kommunismus, sondern zwischen dem, was bislang | |
sozialdemokratische Politik ausgemacht hatte, also der Nationalisierung der | |
entscheidenden Wirtschaftssektoren, und der ungezügelten Dominanz des | |
Markts. Das war ein ziemlich anderer Mittelweg als der Schwedens. | |
Dass die Wahl auf Ed Miliband und nicht auf seinen Bruder David Miliband - | |
einen engen Vertrauten von Blair - fiel, wurde nicht nur in Großbritannien | |
als Rückkehr zu irgendwie mehr (schwedischer?) Sozialdemokratie | |
interpretiert. Schon bei seinem ersten Auftritt auf dem Labour-Kongress | |
schmückte Ed Miliband seine Rede mit Anspielungen auf die Wichtigkeit von | |
"Fairness" und "Solidarität". Und er sagte: "Wir müssen das alte Denken | |
abschütteln und für die einstehen, die daran glauben, dass es mehr gibt als | |
das Leben am unteren Rand." Was also sagen uns diese beiden Wahlen über die | |
Zukunft der Sozialdemokratie? | |
Sozialdemokratie - als Bewegung und als Ideologie - wird normalerweise (und | |
vermutlich zu Recht) auf den deutschen Revisionismus von Eduard Bernstein | |
im späten 19. Jahrhundert zurückgeführt. Bernstein argumentierte im | |
Wesentlichen, dass sobald die SPD universelle Zustimmung erhielt (womit | |
natürlich männliche Zustimmung gemeint ist), die "Arbeiter" die Wahlen | |
nutzen konnten, um ihre Partei an die Regierung zu bringen. Und sobald | |
diese dann die Macht im Parlament hatte, konnte die SPD den Sozialismus | |
"beschließen". Und deshalb, so seine Überlegung, war die Rede vom Aufstand | |
auf der Straße unsinnig. | |
SPD kapert die Mitte | |
Was Bernstein hier als Sozialismus definiert, blieb in vieler Hinsicht | |
unklar - schien aber zu seiner Zeit die Nationalisierung der | |
wirtschaftlichen Schlüsselbereiche einzuschließen. Die Geschichte der | |
Sozialdemokratie als Bewegung war eine langsame, aber kontinuierliche | |
Bewegung weg von der radikalen Politik hin zu einer Orientierung an der | |
Mitte der Gesellschaft. Die Parteien verleugneten 1914 ihren | |
internationalistischen Ansatz und unterstützten ihre Regierungen während | |
des Ersten Weltkrieges. | |
Nach dem Zweiten Weltkrieg verbündeten sich die Sozis freiwillig mit den | |
USA und positionierten sich während des Kalten Krieges gegen die | |
Sowjetunion. Und 1959, während der Konferenz in Bad Godesberg, entledigte | |
sich die deutsche Sozialdemokratie öffentlich des Marxismus insgesamt. Sie | |
verlautbarte, dass aus der Arbeiterpartei nun eine Volkspartei geworden | |
sei. | |
Sowohl die SPD als auch die anderen sozialdemokratischen Parteien standen | |
damals für den Kompromiss des "Wohlfahrtsstaates". In dieser Hinsicht, in | |
der Phase der großen Expansion der Weltwirtschaft zwischen 1950 und 1960, | |
war dieses Konzept ziemlich erfolgreich. Und zu dieser Zeit blieb die | |
Sozialdemokratie eine Bewegung in dem Sinn, dass diese Parteien die aktive | |
Unterstützung und Verbundenheit einer enormen Anzahl von Menschen in ihren | |
jeweiligen Ländern mobilisieren und kontrollieren konnten. | |
In den frühen 70ern dann brach die Phase der Stagnation und der | |
neoliberalen Globalisierung an. Die sozialdemokratischen Parteien | |
entledigten sich sukzessive ihrer Begeisterung für den Wohlfahrtsstaat und | |
wurden zu Anwälten einer wenn auch sanfteren Version der Vorherrschaft des | |
Marktes. Um nichts anderes ging es bei Blairs "New Labour". Schwedens | |
Sozialdemokratie widerstand diesem Trend länger als andere, aber auch sie | |
unterwarf sich ihm schließlich. | |
Strukturell migrantenfeindlich | |
Die Folge von alldem war, dass die Sozialdemokratie aufhörte, eine Bewegung | |
zu sein, die wirklich starke Verbündete oder gar Massen mobilisieren kann. | |
Sie wurde vielmehr zu einer Wahlmaschine, der die Leidenschaft der | |
Vergangenheit fehlte. | |
Aber auch wenn die Sozialdemokratie längst keine Bewegung mehr darstellt, | |
sie ist noch immer eine kulturelle Präferenz. Ihre Wähler verteidigen noch | |
immer die im Schwinden begriffenen Sozialleistungen des Wohlfahrtsstaates. | |
Sie protestieren regelmäßig, wenn eine weitere Leistung gekürzt wird, was | |
heute ja mit einer gewissen Regelmäßigkeit passiert. | |
Zum Schluss noch ein Wort zum Einzug der rechtsextremen | |
migrantenfeindlichen Partei ins schwedische Parlament. Sozialdemokraten | |
waren nie besonders stark an den Rechten der ethnischen oder anderen | |
Minderheiten interessiert - und noch weniger an denen der Immigranten. | |
Sozialdemokratische Parteien tendierten immer dazu, die Parteien der | |
ethnischen Mehrheit zu sein, die ihre Heimatgebiete gegen die Arbeiter aus | |
dem Ausland verteidigt, um ihre Löhne und Arbeitsplätze zu schützen. | |
Solidarität und Internationalismus waren nützliche Slogans nur, solange | |
keine ausländische Konkurrenz in Sicht war. Auch Schweden musste eine | |
solche bis vor Kurzem nicht fürchten. Nachdem sich das änderte, wanderte | |
ein erklecklicher Teil der Wähler schnurstracks nach rechts außen. | |
Aus dem Englischen übersetzt und bearbeitet von Ines Kappert | |
4 Oct 2010 | |
## AUTOREN | |
Immanuel Wallerstein | |
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