# taz.de -- Aus der Litarataz - Frankfurter Buchmesse: Mit lyrischer Achtsamkeit | |
> Kim Thúy floh als junges Mädchen von Vietnam nach Malaysia und von dort | |
> weiter nach Kanada. In "Der Klang der Fremde" erzählt sie von der | |
> Migration der Familie - kühl und schonungslos. | |
Bild: Eine Familie von Flüchtlinge aus Vietnam in den 70er Jahren. | |
Zum zauberhaften Vermächtnis des amerikanischen Künstlers Joe Brainard | |
gehören seine Memoiren mit dem Titel "I Remember". Darin lässt er sein | |
Leben Revue passieren, indem er sich strikt an die eigene Erinnerung hält. | |
Die Wörter "Ich erinnere mich …" dienen ihm als Auslöser für seine | |
ungeordneten, in Zeit und Raum hin- und herhüpfenden Assoziationsketten und | |
Gedankencluster. | |
Einen ganz ähnlichen Weg wählt auch die Vietnamesin Kim Thúy für ihr erstes | |
Buch, das nun unter dem Titel "Der Klang der Fremde" auch in deutscher | |
Übersetzung erscheint. Im Original heißt es "Ru", was im Französischen | |
einen kleinen Bach bezeichnet und auf Vietnamesisch ein Schlaflied. | |
Wie Joe Brainard gedenkt auch die Ich-Erzählerin des Buches, deren | |
Lebenslinien parallel zur Biografie der Autorin verlaufen, ihrem Leben. | |
Geboren im Jahr der Tet-Offensive floh sie im Alter von zehn Jahren mit | |
ihrer Familie vor den Kommunisten aus Saigon nach Malaysia. | |
Später siedelt die Familie nach Kanada über, wo Kim Thúy als Übersetzerin | |
und Rechtsanwältin, aber auch als Gastronomin und Gastrokritikerin | |
arbeitete. Heute lebt sie mit ihrem Mann und zwei Kindern in Montréal. | |
In ihren Erinnerungen verfolgt sie die Bewegungen eines Lebens, wie es ihr | |
gerade in den Sinn kommt: das Damals mit dem Heute verschränkend und der | |
Nicht-Chronologie der Erinnerung folgend. | |
Heraus kommen Prosa-Miniaturen, die oftmals keine Seite füllen. | |
Memoiren-Splitter, die sich zu keinem Roman, aber doch zu einem | |
eindrücklichen Kaleidoskop der Erinnerung fügen. Dabei geht es beileibe | |
nicht nur um die waghalsige Flucht am Ende der 1970er Jahre und die | |
entsetzlichen Zustände im Flüchtlingslager. | |
Thúy erzählt von den Schmerzen der Emigration und den Freuden der | |
Immigration, von Mutterschaft, Kindheit und Autismus. Petitessen und | |
Großartigkeiten stehen bei ihr nebeneinander. | |
Doch ganz egal, von was sie gerade erzählt: sie nähert sich ihren Sujets | |
mit geradezu lyrischer Achtsamkeit, scheint ihre Worte wie glänzende | |
Murmeln in der Hand zu wiegen, bevor sie sie aufs Papier wirft. Es ist ein | |
zarter und fragiler, doch auch energischer Ton, den sie anschlägt. Ihr | |
Humor ist wohldosiert, ihr Witz einer, der um seine Ernsthaftigkeit weiß. | |
So wie die Cousine Sao Mai in Saigon ihre Festtagskuchen mit dem Fahrrad | |
auslieferte, indem sie sich wie eine Akrobatin zwischen anderen Fahrrädern | |
hindurchschlängelt, erinnert sich die Erzählerin im Zickzackkurs an ihr | |
Leben. | |
Unzählige Personen lernen wir auf dieser Tour kennen, angefangen bei der | |
strengen Mutter und dem im Augenblick lebenden Vater über den | |
verantwortungslosen Onkel bis hin zu Herrn Minh, der in ihr den Wunsch zu | |
schreiben weckt. Lauter Einzelschicksale, deren Namen bei der Erzählerin | |
Madeleine-Erlebnisse à la Proust auslösen wie auch Bretel-Butter oder | |
Bounce-Weichspülerduft. | |
"Der Klang der Fremde" erzählt auch vom sozialen Abstieg in der neuen | |
Heimat und vom amerikanischen Traum aller Einwanderer. Dass die | |
Protagonistin in Vietnam keine wirkliche Vietnamesin und in Kanada keine | |
wirkliche Kanadierin ist - dieses Schicksal teilt sie mit den meisten | |
Emigranten. | |
Thúy erzählt davon, oftmals nass und kühl, selten klebrig und süß, immer | |
aber schonungslos; und in einer Offenheit, die jedem Tagebuch gut anstünde. | |
Eigenarten und Unterschiede zwischen den Nationen betrachtet sie dabei wie | |
funkelnde Steinchen und lässt ihren jeweiligen Heimatgefühlen freien Lauf. | |
Dass nicht einmal die Gesten der Liebe universell sind und auch nicht alle | |
Menschen Suppe zum Frühstück mögen, muss die Erzählerin erst lernen. Die | |
kluge Widmung des Buches lautet: "Für die Menschen im Land". | |
6 Oct 2010 | |
## AUTOREN | |
Shirin Sojitrrawalla | |
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