# taz.de -- Unterricht und Einwanderungsgesellschaft: Der Hase vor dem Taj Mahal | |
> Mit Weihnachtsgeschichten können viele Schüler aus Migrantenfamilien | |
> nichts anfangen. Lehrbücher und Schulen versuchen, auch andere Kulturen | |
> einzubeziehen. | |
Bild: Hodscha oder Eulenspiegel? Deutsche Lehrbücher versuchen, auch andere Ku… | |
Auf dem Markt von Bagdad hörte der Schelm Nasreddin Hodscha einst ein | |
lautes Getöse. Ein Wirt hatte einen Bettler gepackt und schüttelte ihn am | |
Kragen. Als Hodscha fragte, was los sei, schrie der Wirt wutentbrannt: | |
"Dieser Strolch hat sein Fladenbrot so lange über meinen Hammelbraten | |
gehalten, bis das Brot auch danach roch. Dann hat er es aufgegessen und | |
nicht gezahlt." Das gehe so nicht, sagte Hodscha, für fremdes Gut müsse man | |
bezahlen. Er nahm also mehrere Münzen vom Bettler, schüttelte sie in der | |
hohlen Faust und sagte: "Jetzt seid ihr quitt: Er roch deinen Braten und du | |
hörtest sein Geld." | |
Diese Geschichte ist weltweit bekannt, auch in Deutschland. Nur dass hier | |
der Protagonist Till Eulenspiegel heißt. | |
Berliner Grundschüler lesen im "Deutschbuch 5" die Geschichten von Hodscha. | |
Unter ihnen sind auch jene Kinder mit türkischen Wurzeln, denen taz-Leserin | |
Anne G. regelmäßig als Lesepatin vorliest. "Als ich ihnen die Geschichten | |
von Hodscha vorlas, waren sie begeistert", erzählt G. "Ansonsten gibt es | |
Geschichten über Weihnachten - dazu haben sie nicht den geringsten Bezug." | |
Das "Deutschbuch 5" wird von Cornelsen herausgegeben. Der Verlag und die | |
Konzerne Klett und Westermann teilen 90 Prozent des Marktes unter sich auf. | |
Der ist komplex, jedes Bundesland hat eigene Lehrpläne, braucht also eigene | |
Schulbücher, deren Inhalt bis zur Veröffentlichung einen mehrstufigen | |
Prozess durchläuft. Die Lehrpläne werden von Kommissionen erstellt, in | |
denen Universitätsdozenten und Lehrer mit viel Praxiserfahrung sitzen, auch | |
bei den Verlagen arbeiten Bildungsexperten und erfahrene Lehrer als | |
Autoren. | |
Seit Jahren beschäftigen sich die Kultusminister mit Ideen für den | |
Unterricht in der deutschen Einwanderungsgesellschaft: Der | |
Religionsunterricht soll vielfältiger werden, Mehrsprachigkeit soll | |
gefördert, Lehrer sollen in interkultureller Pädagogik weitergebildet | |
werden. In den Büchern sollen mehr Migranten vorkommen. Doch Neuerungen | |
brauchen lange, bis sie im Schulalltag ankommen. Laut dem Institut für | |
Internationale Schulbuchforschung liegen die Inhalte mehrere Jahre hinter | |
dem aktuellen Forschungsstand zurück. Gleichzeitig arbeiten Schulen aus | |
Kostengründen häufig viele Jahre mit denselben Büchern, im schlimmsten Fall | |
kann es mehr als zehn Jahre dauern, bis die auf dem neuesten Stand sind. | |
"Die Schulbücher sind der heimliche Lehrplan", sagt Robert Maier, der am | |
Institut den Bereich Europa leitet. | |
Felix kennt sich aus | |
In der Dortmunder Grundschule Kleine Kielstraße gibt es solche Probleme | |
nicht. Schon seit der Gründung Mitte der 90er Jahre werden hier keine | |
Lesefibeln benutzt. Im Plattenbauviertel im Norden der Stadt sind zwei | |
Drittel der Bewohner Ausländer oder Deutsche mit Migrationshintergrund, in | |
der Grundschule sprechen nur die wenigsten Kinder Deutsch als | |
Muttersprache. Es könnte eine dieser vermeintlichen Problemschulen sein, | |
aber es ist keine. Die staatliche Grundschule wurde 2006 mit dem Deutschen | |
Schulpreis ausgezeichnet. Für ihren selbstverständlichen Umgang mit | |
Vielfalt. | |
"Wir haben uns entschieden, richtige Bücher zu lesen", sagt die Leiterin | |
Gisela Schultebraucks-Burgkart. Zum Beispiel "Briefe von Felix". In dieser | |
Buchreihe verliert Sophie ihren Kuschelhasen Felix und ist untröstlich. | |
Doch bald schreibt ihr Felix Briefe aus London, Rom oder Kairo. | |
In der Kleinen Kielstraße schreibt Felix aus den Herkunftsländern der | |
Schüler. "Die Lehrer schreiben einfach neue Geschichten", erklärt die | |
Direktorin, etwa über das berühmte Taj Mahal in Indien. "Und wir laden | |
Eltern ein: dann kommt auch mal eine indische Mutter in die Schule und | |
zeigt den Kindern, wie man einen Sari wickelt." | |
Auch an anderer Stelle holt der Unterricht die Kinder ab: zu Hause in | |
Dortmund. In Sachkunde lernen sie, wie Menschen in der Gegend früher | |
lebten; in Religion werden Geschichten aus dem Alten Testament erzählt, die | |
dem Christentum, Islam und Judentum gemeinsam sind; in Kleingruppen üben | |
sie Deutsch entsprechend ihren Kenntnissen. Das sind Ansätze, die auch | |
Kindern ohne Migrationshintergrund guttun. | |
Bei den Schulbüchern sind inzwischen aber auch Fortschritte erzielt worden. | |
"Unsere Geschichtsbücher sind nicht mehr so eurozentrisch wie früher", sagt | |
Forscher Robert Maier, die Bedeutung des Islam werde wahrgenommen, der | |
Kolonialismus kritisch reflektiert. "Dennoch kann man nicht zufrieden | |
sein." Geschichtsbücher sind heute auf subtilere Weise eurozentrisch. Immer | |
wird eine Abfolge von Hochkulturen präsentiert: Griechenland und Rom in der | |
Antike, das Mitteltalter, die europäischen Entdeckungen, der Kolonialismus, | |
schließlich die Frühe Neuzeit und die Moderne. Diese Abfolge zielt im | |
Endeffekt auf die Vorherrschaft Europas in der heutigen Zeit. | |
Inzwischen gilt aber: Nicht die Demokratie der alten Griechen und das | |
Rechtssystem der Römer, auf die sich europäische Gesellschaften beziehen, | |
haben ein liberales Europa hervorgebracht, sondern historische Umstände, | |
die in einer seltenen Mischung vorherrschten. Kurz: Es hätte trotz der | |
Beschäftigung mit griechischen Philosophen und römischen Juristen auch ganz | |
anders kommen können. Historiker untersuchen deshalb nicht mehr den | |
Aufstieg und Niedergang von Kulturen, sondern wie sich diese begegnen und | |
beeinflussen. Dabei können bisher vernachlässigte Gesellschaften, etwa | |
afrikanische Hochkulturen oder das Osmanische Reich, mehr Platz bekommen. | |
Schiller und Kalif Omar | |
Viele Geschichten können anders erzählt werden. Eine islamische Erzählung | |
beispielsweise handelt von einem Mörder, der hingerichtet werden soll. Der | |
junge Mann erbittet sich vom Kalifen Omar eine Frist von drei Tagen, in der | |
er das Erbe seines Sohnes regeln will. Ein alter Weggefährte des Propheten | |
Mohammed bietet sich als Bürge an. Drei Tage später ist der junge Mann noch | |
immer nicht zurückgekehrt, nun soll an seiner Stelle der Bürge hingerichtet | |
werden. Im letzten Augenblick taucht er aber doch auf, verschwitzt und | |
verstaubt. Die verwunderten Menschen fragen ihn, warum er nicht einfach | |
abgehauen sei. "Sollte die Welt meinetwegen denken, Muslime halten ihre | |
Versprechen nicht?", fragt der Mann zurück. Der beeindruckte Kalif Omar | |
begnadigt den Mann. | |
Auch diese Geschichte ist weltbekannt, auch in Deutschland. Friedrich | |
Schiller hat sie in der Ballade "Die Bürgschaft" aufgeschrieben. Nur | |
stellte sich Schiller vor, sie spiele im antiken Griechenland. | |
8 Oct 2010 | |
## AUTOREN | |
Lalon Sander | |
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