# taz.de -- Bergleute in Chile: Freude macht blind | |
> Angesichts der Freude über die Rettung der 33 Bergarbeiter gerät in | |
> Vergessenheit, dass jede Woche in Chile vier Menschen bei Arbeitsunfällen | |
> sterben. | |
Bild: Glück gehabt: Luis Urzua (links) wurde als letzter der verschütteten Be… | |
Über die Freude angesichts der Rettung der 33 chilenischen Bergarbeiter aus | |
der Mine San José ist die traurige Wirklichkeit in Vergessenheit geraten. | |
Der Zustand der Arbeitssicherheit in Chile ist katastrophal, insbesondere | |
in den Bergwerken. Chile lebt vom Bergbau. Die chilenische Kupferförderung | |
ist mit 5,5 Millionen Tonnen im Jahr die größte weltweit. In rund 4.000 | |
Bergwerken, vor allem im Norden des Landes, werden außerdem Gold, Silber, | |
Eisen, Lithium und andere Mineralien abgebaut. | |
Die großen Bergbauunternehmen, wie die staatliche Kupfergesellschaft | |
(Codelco), haben Sicherheitssysteme und arbeiten mit modernen Werkzeugen. | |
Aber die vielen kleinen und mittleren Unternehmen, wie die Mine in San José | |
in der 1889 mit dem Abbau von Gold und Silber begonnen worden war, verfügen | |
nicht über solche Gerätschaften. Sie bieten nur minimale Sicherheit. In | |
diesen Minen sind nach Angaben des Nationalen Dienstes für Geologie und | |
Bergbau in diesem Jahr bislang 35 Arbeiter ums Leben gekommen. In den | |
vergangenen zehn Jahren sind bei Unfällen 403 Bergleute getötet worden. | |
Insgesamt mussten 50 kleine und mittlere Unternehmen wegen | |
Sicherheitsmängeln die Förderung einstellen, darunter auch die Mine San | |
José, nachdem 2007 bei einer Explosion ein Arbeiter ums Leben gekommen war. | |
Ein anderer Bergmann war im Vorjahr getötet worden, weitere Unfälle waren | |
glimpflich ausgegangen. Erstaunlicherweise wurde die Mine im Mai 2008 unter | |
der sozialistisch-christdemokratischen Regierungskoalition wieder eröffnet. | |
Die staatliche Aufsichtsbehörde genehmigte den Betrieb und sagte, die | |
Papiere seien in Ordnung. Der letzte Unfall war dann der, bei dem die 33 | |
Bergleute verschüttet und alle Ausgänge verschlossen wurden. | |
Präsident Sebastián Piñera erklärte unter dem Druck der Ereignisse, sehr | |
rasch Reformen zu verabschieden, um die Sicherheit in den Minen zu | |
verbessern. Wie diese Reformen zu finanzieren sein sollen, weiß niemand. | |
Genauso wenig klar ist, ob das Gesetz auch andere Wirtschaftssektoren | |
umfassen wird - immerhin sterben nach Angaben der Obersten Sozialbehörde | |
Chiles im Durchschnitt jede Woche vier Arbeiter bei Arbeitsunfällen. 2009 | |
gab es 227 Todesfälle und mehr als 900 Verletzte. Damit ist die Lage in | |
Chile nicht viel anders als im Rest Lateinamerikas und der Welt. | |
Laut der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) kommen weltweit jeden | |
Tag rund 6.000 Menschen bei Arbeitsunfällen ums Leben. In Lateinamerika | |
gibt es laut ILO etwa 36 Arbeitsunfälle pro Minute, an deren Folgen etwa | |
300 Arbeiter pro Tag sterben. Im Jahr sind das 90.000 Tote. Hinzu kommen | |
weitere 148.000 Menschen, die an den Spätfolgen von arbeitsbedingten | |
Erkrankungen und früheren Arbeitsunfällen ums Leben kommen. | |
Besonders betroffen sind dabei Frauen und Kinder. Die ILO schätzt die Zahl | |
der arbeitenden Kinder zwischen 5 und 14 Jahren weltweit auf 17,5 | |
Millionen. 22.000 Kinder sterben jedes Jahr bei Arbeitsunfällen. Dabei ist | |
zu bedenken, dass die lateinamerikanischen Ökonomien zu bis zu 50 Prozent | |
aus dem informellen Sektor bestehen - über den es keinerlei sichere Daten | |
gibt. | |
Der wachsende Hunger der Industrieländer nach Rohstoffen hat das Drama der | |
Bergarbeiter in Lateinamerika noch verschärft. Alle lateinamerikanischen | |
Länder sind mehr denn je darauf aus, Mineralien und Erze zu verkaufen. Zu | |
den Produktivitätssteigerungen, die Lateinamerika jedes Jahr registriert, | |
trägt der Bergbau besonders bei, insbesondere, seit China zum größten | |
Käufer geworden ist. | |
Mit der Ausweitung der Förderung ist auch die Unsicherheit der Bergleute | |
gestiegen - und die Umweltbelastung. Die lateinamerikanischen Staaten | |
selber fördern diese Tendenz sogar noch, indem sie den Investoren die | |
lockere Handhabung von Arbeitsrecht, Umweltschutz und steuerlichen Abgaben | |
zusichern. Auf der Strecke bleiben dabei die Arbeitnehmerrechte, die | |
Ökosysteme und die Kommunen. | |
Der Bischof von Copiapó, Gaspar Quintana, weiß das sehr gut und kritisiert | |
nicht nur die dramatischen Umweltzerstörungen, er hat sich auch an die | |
Seite der Bevölkerung im Valle del Huasco gestellt, die sich gegen das | |
Megaprojekt "Pascua Lama" zur Wehr setzt. Es handelt sich um das erste | |
Bergbauprojekt, bei dem Chile und Argentinien zusammenarbeiten. Es hat zum | |
Ziel, die nachgewiesenen Vorkommen von Gold, Silber und Kupfer im | |
Gesamtwert von geschätzt 15 Milliarden Dollar auszubeuten. Die notwendigen | |
Investitionen werden auf rund 2,4 Milliarden Dollar geschätzt. | |
Die Führung des Projekts hat das kanadische transnationale Unternehmen | |
Barrick Gold Corporation. Umweltschützer warnen vor einer | |
Umweltkatastrophe. Geplant ist Tagebau auf 4.000 Meter Höhe in einer | |
andinen Zone mit jahrtausendealten Gletschern und mehreren Quellflüssen, | |
die einige dichtbesiedelte Täler mit Wasser versorgen. | |
Ein gemeinsames Kommuniqué von 13 wichtigen chilenischen und argentinischen | |
Umweltorganisationen warnt zudem vor den Folgen des Einsatzes gefährlicher | |
Chemikalien wie Zyanid und Schwefelsäure und dem Freisetzen von giftigen | |
Abfällen, Säuren und Schwermetallen sowie bislang im Gestein gebundenem | |
Arsen. Das kanadische Unternehmen, führen die Umweltschützer aus, wäre | |
nicht in der Lage, diese negativen Folgen zu verhindern. | |
Heute allerdings stehen alle diese Bedenken zurück angesichts der Freude | |
über die Rettung der 33 Bergleute und der dominanten Rolle des chilenischen | |
Präsidenten Sebastián Piñera im Fernsehen. | |
Die Szenen heute erinnern an 1964, als ebenfalls im Norden in Chiles 7 | |
Bergarbeiter in der Mine Flor de Té nahe der Ortschaft Andacollo | |
eingeschlossen waren. Die Bergarbeiter konnten lebend geborgen werden, und | |
sie wurden, wie die heute, zu Nationalhelden erklärt. Ihnen wurde alles | |
versprochen: lebenslange Rentenansprüche, Autos, Urlaubsreisen und so | |
weiter. Keines der Versprechen wurde gehalten. Sie lebten ihr Leben mit | |
allen Schwierigkeiten genauso weiter wie vorher. Und die Minen sind immer | |
noch genauso gefährlich wie damals. | |
14 Oct 2010 | |
## AUTOREN | |
G. Caceres | |
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