# taz.de -- Chronisch Kranke: Geldsegen für die Krankenkassen | |
> Immer mehr Patienten gelten als chronisch krank. Kritiker vermuten keine | |
> medizinischen Ursachen. Vielmehr seien finanzielle Interessen der | |
> Krankenkassen Schuld. | |
Bild: Diagnose: Chronisch krank. Für den Patienten ein Fluch, für seine Kasse… | |
BERLIN taz | Die Zahl der Menschen mit schweren chronischen Krankheiten ist | |
in Deutschland zwischen 2007 und 2008 um 4,6 Prozent gestiegen. Das geht | |
aus Dokumenten des Bundesversicherungsamts (BVA) hervor, über die das | |
Fernsehmagazin "Panorama" am Donnerstag berichtete. "Medizinisch ist dieser | |
plötzliche Anstieg nicht zu erklären", sagte der Bremer Gesundheitsökonom | |
Gerd Glaeske der taz. Über die Ursachen dürfe spekuliert werden. | |
Nachdenklich stimmen müsse, dass ab 2008 mit dem damals geschaffenen | |
Gesundheitsfonds ein neuer Geldzuteilungsmechanismus für die Kassen | |
eingeführt wurde, sagte Glaeske. Danach erhalten diejenigen Kassen, die | |
Patienten mit bestimmten chronischen Krankheiten versichern, über den | |
"morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich" mehr Geld aus dem Fonds. | |
Ein Anreiz mit Folgen: "Es werden Menschen durch die Diagnosen kränker | |
gemacht, als sie es eigentlich sind", sagte Glaeske. | |
Den Katalog der derzeit 80 Krankheitsbilder, für die es mehr Geld gibt, | |
legt das BVA fest. 86 Milliarden Euro werden zurzeit allein für diese 80 | |
Erkrankungen an die Kassen verteilt. Laut "Panorama" lag der prozentuale | |
Anstieg bei 23 dieser Krankheiten im zweistelligen Bereich. | |
So stieg die Zahl der am Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom Erkrankten | |
zwischen 2007 und 2008 um 14 Prozent. Erkrankungen der Speiseröhre nahmen | |
um 16 Prozent zu, bei einer Diabetesart waren es 17 Prozent. Für 2009 | |
liegen noch keine Zahlen vor. | |
"Der Finanzausgleich befindet sich noch im Entwicklungsprozess, muss aber | |
natürlich manipulationssicher sein", sagte eine Sprecherin des | |
Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). | |
In der Kritik stünden auch die Ärzte, die Krankheiten "nach Ermessen" | |
dokumentierten, sagte der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. "So ein | |
System lädt zum Betrug ein." Der Anreiz für Ärzte, sich einen | |
"Dokumentationswettstreit" zu liefern und möglichst viele Patienten als | |
chronisch Kranke zu führen, sei erheblich. Denn die Arzthonorierung | |
orientiert sich auch an der Morbidität. | |
Die Folgen für Patienten sind nicht zu unterschätzen: Codiert der Arzt | |
beispielsweise einen Kranken mit einer psychischen Krise aus | |
Abrechnungsgründen flugs zum Schizophrenen um, dann gereicht dem Patienten | |
dieser Befund möglicherweise ein Leben lang zum Nachteil: "Die Akten", | |
warnte Lauterbach, "laufen durchs gesamte System." | |
15 Oct 2010 | |
## AUTOREN | |
Heike Haarhoff | |
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