# taz.de -- Neues Buch über Jugend in Deutschland: 110 Jahre jung | |
> Hitlerwahn, Vergnügungssucht, Umweltliebe, Ich-Sorgen: Anhand von | |
> Tagebüchern, Briefen und Dokumenten zeigt Fred Grimm ein | |
> Jahrhundertmosaik deutscher Teens und Twens. | |
Bild: Rätselhafte Jugend: Auch an Religion ist sie interessiert. | |
Man kann diese Jahrhundertsammlung auch einfach wie ein Bilderbuch | |
durchblättern. Dann sieht man da zunächst einen Jungen und ein Mädchen mit | |
Hut. Sie mit Gitarre, er mit Hosenträgern überm Hemd. Zwei Wandervögel, die | |
ihr Glück in der Natur suchen. Die Bewegung ist gerade der neueste | |
Bürgerschreck. Das 20. Jahrhundert beginnt. | |
Ein paar Seiten weiter: Ein junger Mann trägt Blumen am Mantel, auf dem | |
Helm. 1914, die Freundin lächelt ihn an, sein langes Gewehr über ihrer | |
Schulter. Kriegswärts, ho! 1998, Raver in der nebligen Tanzmasse. | |
Schließlich zwei Mädchen in der S-Bahn, blondierte Haare, Goldkettchen, | |
glänzendes Lipgloss. Da sind wir angekommen. So sieht, so sah die Jugend in | |
Deutschland aus. 1900 bis 2010. Chronologisch geordnet. | |
Fred Grimm, Journalist der für Stern, Tempo, Emma und GQ schrieb, hat mit | |
seiner Assistentin Anne Kunze eine "private Geschichte aus Tagebüchern, | |
Briefen, Dokumenten" zusammengesammelt: "Wir wollen eine andere Welt." Es | |
ist ein Jahrhundertmosaik, das die Sorgen, Schwärmereien und Kämpfe von | |
Twens und Teens in ihrem jungen politischen und sozialen Leben zeigt. | |
Statistikspalten an den Rändern führen wie ein loser Faden durch die | |
Sammlung. Studentinnen 1919: 9,1 Prozent. 1931/32: 18,8 Prozent. 1951/52 | |
(BRD): 15,9 Prozent. Jugendlich gehaltenes Bekleidungssortiment bei | |
Neckermann, 1966: 10 Prozent. 1967: 40 Prozent. | |
Deutsch ist eklig | |
Aus der Summe der einzelnen Stimmen und Zahlen entstehen Dialoge, aus | |
Zitatkombinationen werden Kommentare. "Ich bin traurig. Ich möchte dort | |
sein, wo Krieg ist", schreibt Elfriede Kuhr in ihr Tagebuch. Egmont Zechlin | |
notiert 1915: "Das die Hand nicht mehr zu retten sei, war mir klar, sie | |
hing nur noch an irgendwelchen Weichteilen. Aber meine Bitte, sie mir | |
aufzuheben, um sie in Spiritus zu legen - die Finger waren noch ganz in | |
Ordnung -, ist leider nicht erfüllt worden." Ein Wirkungstreffer in den | |
Lesermagen. | |
Es stehen da Zeitzeugnisse von BDM-Führerinnen: "Indem ich die Juden | |
vernichte, diene ich dem Werk des Herrn." Und eine Seite weiter schauen | |
einen jugendliche Widerstandskämpfer an. "Ich bin vollkommen ruhig und | |
bitte Euch, es auch gefasst aufzunehmen", schreibt Cato Bontjes van Beek in | |
ihrem Abschiedsbrief, wenige Monate bevor sie hingerichtet wird. "Mag sein, | |
dass wir nur ein paar Narren waren; aber so kurz vor Toreschluss hat man | |
wohl das Recht auf ein bisschen ganz persönliche Illusion." | |
Grimm lässt das Material sprechen und er setzt ihm angenehm wenige Grenzen. | |
Sex in BDM-Lagern, Homosexualität bei der Hitlerjugend, Verwirrung in der | |
führerlosen Nachkriegsneuzeit, Hausbesetzer-WG-Stress und aktuelle | |
Einschätzungen junger Italodeutscher: "Ich finde die deutsche Sprache ganz | |
eklig, tut mir leid." Dazwischen immer allgemeine Pubertätsklugheiten: "Ich | |
finde, dass Menschen das schwierigste Geschöpf auf der Erde sind." | |
In Einführungen versucht Grimm zu greifen, was die Jugend zu diesen Zeiten | |
bewegt hat. Kriegsbegeisterung, Hitlerwahn, Boogie-Vergnügungssucht, | |
Staatsskepsis, Umweltliebe, Ich-Sorgen. Es tauchen bekannte Klischees auf. | |
"Zu den Männern einmal 'Chauvi' gesagt, das löste eine Diskussion von sechs | |
Wochen aus", hält WG-Mitbewohnerin Monika, 23, in den Achtzigern knapp | |
fest. Auf 440 Seiten ist aber genug Platz, sie auch zu brechen oder | |
Kontraste zu schaffen. | |
Sabine Janson macht sich grundlegende Gedanken: "Müsli-Freaks sind sicher | |
unheimlich liebe Leute, aber auf ihre Art und Weise ändern sie nicht das | |
Geringste. Wenn man ein System ändern will, muss man ein Teil des Systems | |
werden … innen genügt das allerkleinste Rädchen, das sich nicht mehr | |
mitdrehen will." | |
Sex mit 14 | |
Natürlich ist dies, das Leben als solches, wie auch die Liebe, die Lust, | |
eines der zentralen Themen, die in jeder der Grimm- schen Epochen immer | |
wieder auftauchen. Genauso wie die Befürchtungen der Eltern, da stimme in | |
sexueller Hinsicht etwas nicht mit den Kindern. | |
Ein junges Mädchen aus Chemnitz, das schwanger wurde, gibt bei ihrer | |
Untersuchung dreizehn mögliche Väter an. Generation Porno? Nein, das ist so | |
aus den Dreißigern überliefert. Die Mädchen zwischen 12 und 17 seien | |
"hemmungsloser und triebhafter" geworden als früher, stellt 1943 das | |
Jugendgericht Nürnberg fest. "Sie fangen mit 14 mit dem Sex an. Sie ziehen | |
mit 17 von zu Hause aus. Sie inszenieren öffentliche Knutsch-ins und | |
protestieren nackt", vermeldet der Stern 1982. | |
Manche, wie Heidrun K., eine 20 Jahre alte Köchin aus der DDR, sehen im | |
Sexuellen das Politische. Ihr Liebhaber solle nicht nur zärtlich und | |
liebevoll sein: "Außerdem müsste er unsere Welt mit einer | |
marxistisch-leninistischen Auffassung betrachten." | |
Im Jahr 2009 stellt der Spiegel Special zu den "Krisenkindern" fest: "Wir | |
sind nicht ,wir'. Wir sind ich und ich und ich." Dass von diesen Ichs in | |
Fred Grimms Kompendium nach hinten hin massenmäßig immer weniger zu Wort | |
kommen, ist folgerichtig. Man braucht dafür nicht unbedingt ein Buch, man | |
kann vieles einfach im Internet nachlesen. Nicht nur XiaBi erzählt von | |
vergeblichen Datingversuchen öffentlich auf ihrem Blog: "Sonntagmittag. | |
Blick aufs Handy, keine Nachricht. Kein Anruf, keine SMS, keine Mail. Ich: | |
Boah ey, krass Alter, was soll der Mist?!? Der kann was erleben." | |
29 Oct 2010 | |
## AUTOREN | |
Johannes Gernert | |
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