# taz.de -- Tagebücher von Fritz Raddatz: Peinlich sind immer die anderen | |
> Der frühere Feuilleton-Chef der Zeit bietet in seinen Tagebüchern jede | |
> Menge bösen Tratsch. Dass früher alles besser war, kann man nach der | |
> Lektüre nicht behaupten. | |
Bild: Oft genug genervt vom Kulturbetrieb: die Kulturbetriebsnudel Fritz Raddat… | |
Selten ist so ein Buch wie aus einer anderen Zeit so in die Gegenwart | |
eingeschlagen wie dieses. Alle sind eine Zeit lang aufgeregt und ergehen | |
sich melancholisch in Früher-war-alles-besser-Rhetorik. Wenn man dies Buch | |
gelesen hat, fragt man sich aber schon: Warum eigentlich? | |
Okay, in den gut 900 Seiten Tagebüchern der Jahre 1982 bis 2001, die Fritz | |
J. Raddatz vorgelegt hat, ist einiges los. Und das nicht nur, weil er als | |
Leiter des Kulturressorts der Zeit von 1976 bis 1985 ein schillernder | |
Feuilleton-Fürst jener Jahre war. Den Tagebüchern vertraut die | |
Kulturbetriebsnudel jede Menge lustigen und bösen Tratsch aus dem Inneren | |
des Kultur- und Medienzirkus an: Der dauerbetrunkene Rudolf Augstein taucht | |
als busengrapschender Millionär auf. | |
Dem "Kasinotonfall" des damaligen FAZ-Herausgebers Joachim Fest attestiert | |
Raddatz "etwas Unbarmherziges, Kultiviert-Widerliches". Offenbar zur Freude | |
des Fest-Nachfolgers und heutigen FAZ-Herausgebers Frank Schirrmacher, der | |
begeistert meldete, die Publikation der Raddatz-Tagebücher sei "endlich der | |
große Gesellschaftsroman der Bundesrepublik". | |
Es ist eine recht übersichtliche Gesellschaft, in der sich Raddatz tummelt | |
- vor allem anderes Kulturbetriebspersonal vom Kitschmaler Paul Wunderlich | |
bis zur Nervensäge Rolf Hochhuth, sowie als bizarrer Beweis dafür, dass in | |
Raddatz kleiner Welt Geist problemlos durch Geld ersetzbar ist, die | |
überdrehte Unternehmergattin Gabriele Henkel, die sich die Kunst der | |
Tischdekoration zur Lebensaufgabe gemacht hat. Früher war alles besser? | |
Echt? | |
Übertrieben redlich oder auch nur zurechnungsfähig ging es in diesem Biotop | |
jedenfalls nicht zu. Nach Besuchen bei Günter Grass, mit dem er befreundet | |
ist, stöhnt Raddatz mit schöner Regelmäßigkeit, wie ihm die ewigen | |
Ich-Ich-Ich-Suaden und Rechthaber-Poltereien des Großschriftstellers auf | |
die Nerven fallen. Dass Grass privat über Christa Wolf urteilt, sie habe | |
das Naturell eines BDM-Mädchens, dass Peter Rühmkorf bei | |
Abendgesellschaften in Raddatz edel möblierter Wohnung in die teuren Vasen | |
ascht, dass die Zeit-Herausgeberin Gräfin Dönhoff die Inge Meysel des | |
deutschen Journalismus und das "grausliche Oberlehrergequatsche von Helmut | |
Schmidt" einfach "widerlich" sei, erfahren wir aus den Tagebüchern. | |
Raddatz beziehungsweise FJR, wie sich der gute Mann selbst nennt, er | |
verkehrt mit sich gleichsam in der dritten Person, notiert das alles mit | |
einer aparten Mischung aus leichtem Ekel und Stolz darauf, zum Inner Circle | |
des hochtourig leerlaufenden Betriebs zu gehören. | |
Und weil im Zweifel immer die anderen die peinlichen Gestalten sind, hält | |
Raddatz, der Champagner-Marxist, denn auch genervt fest, dass es im | |
saturierten Kulturmilieu dieser Jahre zum guten Tonfall gehört, | |
kapitalismuskritische Plattitüden abzusondern: "Wer Klischees abfeuert à la | |
,Ich will keinen Kapitalismus' (meist Leute mit Zweithaus in der Toscana) | |
hat Applaus. Je stotternd-unartikulierter, desto erfolgreicher." Überhaupt, | |
die Kulturlinken von Rühmkorf bis Grass: "Sie tragen ihr Links-Sein wie | |
eine Monstranz vor sich her, mit der sie die Welt beschwören und von sich | |
wegweisen. Sie reden seit 20 Jahren dieselben Legosätze." | |
Bezeichnend ist dann natürlich, wie er kurz nach diesem Stoßseufzer atemlos | |
weiterhetzt, vom Interview mit Jorge Semprún in Madrid zum | |
Enzensberger-Geburtstag nach München zum Wochenende auf Sylt zum Treffen | |
mit seinem Verleger in Paris zur Frankfurter Buchmesse, wo prompt der Ekel | |
wieder losgeht: "Kein Lob oder Verriss eines Buches gilt im Grunde diesem | |
Buch, sondern immer ist das munitioniert von irgendeinem ,dem werd ichs mal | |
zeigen …' " Niemand erwartet mehr, dass jemand mit dem, was er formuliert, | |
identisch ist." Raddatz wird wissen, wovon er da redet. | |
Insgesamt ein schwerer Fall von Doublebind: Rumwuseln im Gewimmel und nach | |
den Partys säuberlich und säuerlich festhalten, wer sich wieder | |
danebenbenommen hat und "widerlich" oder eitel oder ohne Manieren ist. | |
Diese Paradoxien der teilnehmenden Beobachtung, mittendrin statt nur dabei, | |
gelten für den Kulturbetrieb wie fürs mondäne Leben. Bei einem seiner | |
unzähligen Sylt-Besuche stöhnt der Edel-Linke über das "Cartier-Uhren-Pack | |
auf der Insel". Um im nächsten Satz stolz zu berichten, wie er selbst das | |
Leben zu genießen versteht: "Gestern zum Abendessen nach Tirol geflogen, | |
wozu hat (die Milliardärin) Madame Getty diesen Wunderbomber." Wenn schon | |
alles eitel ist, will der Tagebuchschreiber wenigstens der Eitelste von | |
allen sein. | |
Die ewigen Klagen darüber, dass der Sekt bei einem Empfang nicht gut und | |
das Essen bei Gräfin Dönhoff eine Beleidigung seines feinen Gaumens war, | |
das unaufhörliche Geprotze mit seinen Stilmöbeln und seiner "Picasso-Vase", | |
der Stolz, mit dem er festhält, dass der Zeit-Chefredakteur ihn bittet, den | |
Wein zu bestellen, weil er davon mehr verstehe - das ist komische Angeberei | |
vor sich selbst. Das Distinktionsgewinnlertum hat etwas Parvenühaftes: Wer | |
sich selbst so ausgiebig auf die Schulter klopfen muss, ist sich des | |
eigenen Status trotz aller äußeren Erfolge dann doch nicht so sicher, und | |
das nicht nur, weil er als mehr oder weniger offen Schwuler bei den steifen | |
Hanseaten der Zeit-Chefetage Außenseiterstatus hat, den er seinerseits mit | |
Dandy-Getue und Paradiesvogel-Gespreiztheiten schmückt. | |
Ganz so lustig ist die Kulturbetriebsdauerparty dann auch nicht. Zentrum | |
der 900 Seiten ist Raddatz Rauswurf als Zeit-Kulturchef wegen eines | |
läppischen Fehlers - der bunteste Windmacher der Branche hatte es etwas zu | |
bunt getrieben. In den Tagebüchern kann man schön beobachten, wie Raddatz | |
kein Problem damit hat, seine spießigen Chefs ausgiebig zu verachten und | |
gleichzeitig als gut trainierter Profi mit robustem Erwerbstrieb bei ihnen | |
zu baggern, um als Starschreiber beim "Blättchen" bleiben zu dürfen. | |
Auch darin ist Raddatz ein Phänotyp des Kulturbetriebs: So machens alle - | |
übrigens immer noch -, wenn auch nicht ganz so erfolgreich. Nur mit dem | |
kleinen Unterschied, dass er das alles so grell ausstellt, weil ihm | |
offenbar vor lauter Eitelkeit schlicht nichts peinlich ist. Aber weil | |
Raddatz die Literatur wirklich liebt, weil er nicht nur ein eitler, sondern | |
eben auch ein kluger und erfreulich mitleidloser, lustig bösartiger | |
Beobachter ist, funkeln seine Sottisen immer wieder hübsch. | |
Von heute aus, wo in den Redaktionen eher gearbeitet als gefeiert wird und | |
Windmacher vom Typ Raddatz etwas peinlich wirken und das | |
Champagnergeschlürfe nicht notwendig zur Stellenbeschreibung gehört, schon | |
weil alle vor allem damit beschäftigt sind, irgendwie zu überleben, liest | |
man die traurig-aufgekratzten Berichte aus dem Innenleben des Betriebs von | |
damals wie Zeugnisse einer völlig zu Recht untergegangenen Welt: | |
umgekippter Kulturbetriebsnudelsalat. | |
Angesichts dieser bunt-trostlosen Milieubeschreibungen, der Mischung aus | |
Wichtigtuerei, Anerkennungsdefiziten aller Beteiligten, die sich ständig zu | |
wenig beachtet fühlen, stets wachem Neid- und Konkurrenzbewusstsein und gut | |
geöltem Karrierismus, ist man ganz froh, dass aus diesem aufgeblasenen | |
Zirkusluftballon inzwischen die Luft raus ist. Und fragt sich dann, wie es | |
im Kopf von Kollegen aussieht, die die Raddatz-Tagebücher euphorisch, um | |
nicht zu sagen: identifikatorisch abgefeiert haben und Raddatz | |
attestierten, als er das Zeit-Feuilleton geleitet habe, sei das eine wilde | |
Angelegenheit gewesen, neben der "die Streber-und Stipendiaten-Feuilletons | |
von heute noch papierner wirken" - so Georg Diez im Spiegel. | |
Im Echo, das Raddatz Tagebücher ziemlich flächendeckend im Feuilleton | |
gefunden haben, klingt ein seltsamer Phantomschmerz an: Indem die | |
Rezensenten dem einstigen Glanz und der halb in Selbstsuggestion | |
herbeigeredeten, halb realen Bedeutung des ehemaligen Großfeuilletons | |
hinterhertrauern, beklagen sie unausgesprochen in einer narzisstischen | |
Kränkung den Bedeutungsverlust ihrer Branche. Die Zeiten, in denen die | |
Feuilleton-Prominenz sich als Stichwortgeber und Kompassnadel des | |
Zeitgeistes spreizen konnte, sind erfreulicherweise vorbei. | |
Bei der Lektüre erinnert man sich in Wirklichkeit auch unwillkürlich daran, | |
wie unsereins das vor sich hin dünkelnde Zeit-Feuilleton samt Grass, | |
Christa Wolf und immer vorneweg Raddatz in den 80ern einfach öde fand | |
(einzige, sehr verehrte Ausnahme: Benjamin Henrichs), und lieber die Spex, | |
Rainald Goetz oder Gabriele Goettle gelesen hat. Raddatz und die Zeit, das | |
war eine alte, übersättigte und für jüngere Köpfe komplett irrelevante | |
Welt. | |
Die taz kommt auf den 900 Raddatz-Seiten übrigens auch einmal vor, Fritz J. | |
Raddatz zitiert zustimmend die Theaterkritik einer Tabori-Inszenierung. Und | |
weil seine Eitelkeit offenbar rasend ansteckend ist: Raten Sie mal, wer die | |
damals als junger Mensch geschrieben hat. Genau: der Autor dieser Zeilen. | |
So wird man noch als kleiner taz-Schreiber zur Fußnote in Raddatz | |
Kulturbetriebszirkus-Aufzeichnungen. Und peinlicherweise ist man dann | |
darauf auch noch etwa eine Minute lang stolz. So eitel, narzisstisch, | |
geltungsbedürftig, wie sich Raddatz in seinen so seltsamen wie tollen | |
Tagebüchern präsentiert, sind wir in schwachen Augenblicken vermutlich | |
alle. Auch wenn wir es darin nicht zu solcher Grandezza wie Raddatz bringen | |
und es auch niemals zugeben würden. | |
## Fritz J. Raddatz: "Tagebücher 1982-2001". Rowohlt Verlag, Reinbek 2010, | |
940 Seiten, 34,95 Euro | |
1 Nov 2010 | |
## AUTOREN | |
Peter Laudenbach | |
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