# taz.de -- Als Neudeutscher unter Vertriebenen: Die verlorene Heimat | |
> Gehört der Bund der Vertriebenen zur Bundesrepublik wie die Bratwurst? | |
> Unser Autor ist Neudeutscher - und begleitete die Wiederwahl Erika | |
> Steinbachs. | |
Bild: Erika Steinbach auf der Versammlung des Bundes der Vertriebenen. | |
BERLIN taz | Auf ihrer Internetseite verrät Erika Steinbach, was sie gern | |
machen würde, wozu sie aber keine Zeit hat: "In blühenden Wiesen sitzen und | |
die Natur malen". Frau Steinbach ist seit zwölf Jahren Präsidentin des | |
Bundes der Vertriebenen (BdV). Heute, an diesem Tag Ende Oktober, will sie | |
sich für dieses Amt erneut wählen lassen. Für die nächsten zwei Jahre. | |
Wie die Wahl ausgehen wird, wird mir schon nach einigen Minuten klar. | |
Gleich, nachdem ich den Hörsaal in der katholischen Akademie in Berlin | |
betrete, in dem die Bundesversammlung des BdV abgehalten wird. Gleich, als | |
ich auf der für die Presse vorgesehenen Tribüne Platz nehme. | |
Frau Steinbach steht am Rednerpult und im Saal wird laut geklatscht. Die | |
ersten Sätze ihrer Rede habe ich verpasst. Sie hatte die Anwesenden mit den | |
Worten "liebe Schicksalsgefährten" begrüßt, so lese ich das später in ihrer | |
vorgedruckten Rede. Frau Steinbach, mit schwarzem Rollkragenpulli, | |
Perlenkette, blauem Blazer, schaut unbeirrt ins Publikum. Ihre blondierten | |
Haare sind, wie ich sie aus dem Fernsehen kenne, regungslos. Sie scheint | |
die Klatschpause zu genießen. | |
Wer die heutigen Probleme von Integrationsunwilligen aus anderen | |
Kulturkreisen mit den deutschen Vertriebenen und Spätaussiedlern in einem | |
Atemzug nenne, sagt Steinbach, der bedürfe dringend Nachhilfe. Und: "Die | |
Aussiedler sind ein Gewinn für unser Land." | |
Mit "anderen Kulturkreisen" meint sie diejenigen, die wegen "Arbeit und | |
Wohlstand freiwillig" nach Deutschland gekommen seien und keine oder zu | |
geringe Bereitschaft zeigten, diesem Land, Deutschland, den nötigen Respekt | |
entgegenzubringen, ja nicht einmal die deutsche Sprache zu erlernen. Wieder | |
wird im Saal geklatscht. | |
Neben mir sitzt ein Paar, das auf das Klatschen verzichtet. Stattdessen | |
streichelt der Mann die Hände seiner Frau. Das macht die beiden | |
sympathisch, ich grüße sie mit einem Lächeln. Sie sind beide im | |
Rentenalter. Er trägt eine Brille, die Haare kurz und nach hinten gekämmt, | |
eine braune Stoffhose und einen karierten Pullover über seinem weißen Hemd. | |
Sie schweigt und schaut desinteressiert in dem großen Saal herum. "Auch die | |
Spätaussiedler sind freiwillig nach Deutschland gekommen", sagt mein | |
Nachbar, nachdem er mich gefragt hat, für welche Zeitung ich arbeite. | |
"Bestimmt auch wegen Arbeit und Wohlstand." | |
Erika, die selbsternannte "Schicksalsgefährtin" | |
Der Mann ist 1939 in Ostpreußen geboren. Dort kam seine Familie her. Im | |
Gegensatz zu den meisten Anwesenden sei er tatsächlich ein Vertriebener, | |
erzählt er. 1944 flüchtete seine Mutter mit ihm und seinem Bruder nach | |
Eschwege in Hessen. | |
Während das Schicksal der selbsternannten "Schicksalsgefährtin" Erika | |
Steinbach ganz anders aussieht, wie mich mein Sitznachbar aufklärt: Ihr | |
Vater kam aus Hanau, ihre Mutter aus Bremen. Während des Krieges war der | |
Vater bei Danzig stationiert, die Mutter kam 1943 nach. Steinbach wurde | |
1944 geboren. Ein Jahr später "flüchtete" die Familie. Über Berlin nach | |
Hanau. | |
Zur Erinnerung: Danzig war zwischen 1919 und 1939 eine freie Stadt im | |
sogenannten polnischen Korridor, der später von den Nazis überfallen wurde. | |
"Dabei wurden sie nicht wegen Schuld oder Unschuld ausgewählt, sondern nur, | |
weil sie Deutsche waren", höre ich inzwischen Frau Steinbach rufen. Es geht | |
um die deutschen Zwangsarbeiter. Mit dem Thema bin ich ein wenig vertraut, | |
dank Herta Müller und ihrer "Atemschaukel". | |
Frau Steinbach fordert von der Bundesregierung eine Zahlungsentschädigung | |
für die deutschen Zwangsarbeiter. Ich versuche, meinem Freund Peter eine | |
SMS zu schreiben. Er war mein Gast heute Nacht, ich will ihn kurz fragen, | |
ob er bei mir gut geschlafen hat. Vergebens. "Nur Notrufe" steht auf dem | |
Display meines Handys. | |
Die Bundesregierung sei in der Pflicht und nicht die Länder, die Deutsche | |
nach dem Krieg verschleppt hätten, weil alle bisherigen deutschen | |
Regierungen es nicht für nötig gehalten hätten, mit diesen Ländern über | |
Entschädigungen zu verhandeln, sagt Frau Steinbach. Wegen des hohen | |
Lebensalters der Betroffenen sei höchste Eile geboten. Ich schaue aus dem | |
Fenster und stelle fest, dass nur eine Wand den Saal von einem Friedhof | |
trennt. Ich frage mich, ob es darin irgendeinen Sinn gibt. Applaus | |
unterbricht meinen Gedanken. | |
Keinen Sinn sehe er in einem Bundesverband der Vertriebenen, erzählt mir | |
der Nachbar. Die Landsmannschaften seien vollkommen ausreichend, weil sich | |
dort die aus den jeweiligen Regionen stammenden Menschen treffen und | |
austauschen können. "Einen Bundesverband brauchen wir nicht, weil wir keine | |
Forderungen auf Bundesebene stellen wollen." Auch weil fast alle, "die da | |
unten sitzen, nach dem Krieg geboren und somit keine Vertriebenen sind". | |
Seit 2002 ist er aktives Mitglied in seiner Landsmannschaft. Zunächst als | |
Archivleiter, dann als Schatzmeister und jetzt als Kreisvertreter des | |
Kreises in Ostpreußen, aus dem seine Familie stammt. 2002, als er | |
angefangen hatte, da stand er kurz vor der Rente, erzählt er mir. Seine | |
Tochter hielt sein Engagement für keine gute Idee. | |
"Lass den Quatsch, Papa", sagte sie ihm. Ich frage ihn, warum er trotzdem | |
aktiv geworden sei. "Wenn ich das hier nicht machen würde, dann würde ich | |
Tennis spielen", antwortet er und lacht. So, wie Erika Steinbach Wiesen | |
malen würde. | |
Wie im Theater: Aufstehen, Platz nehmen, Applaus | |
Buhrufe aus dem Saal unterbrechen unsere Unterhaltung. Die Namen von | |
Claudia Roth und Renate Künast lösen Unruhe im Saal aus. Die beiden grünen | |
Politikerinnen haben im letzten Sommer zwei Mitglieder des vom Bundestag | |
gewählten Stiftungsrats der geplanten Vertriebenen-Gedenkstätte in Berlin | |
kritisiert, die gleichzeitig Mitglieder des BdV sind. | |
Die Buhrufe sind zart, was wohl mit dem Durchschnittsalter der Anwesenden | |
zu tun hat. Mein Handy zeigt immer noch keinen Netzempfang. Die katholische | |
Akademie, in der auch die deutsche Bischofskonferenz beheimatet ist, | |
scheint ein Funkloch zu sein. | |
Drei große Ziele hat sich Frau Steinbach in den Kopf gesetzt. Erstens: die | |
Errichtung des Zentrums für Vertreibung in Berlin. Zweitens: die | |
Durchsetzung eines Bundes-Gedenktages für die Vertriebenen und, drittens: | |
die Forderung nach Zahlungsentschädigungen für deutsche Zwangsarbeiter. | |
In diesen Zielen sieht mein Nachbar keinen Sinn: "Erstens: Diese Inhalte | |
gehören nicht in ein Zentrum. Die gehören ins historische Museum. Zweitens: | |
Gedenktag? Wir haben genug gedacht. Und drittens: Warum sollen junge | |
Menschen wie Sie, die arbeiten und Steuern zahlen, eine solche Last | |
tragen?" | |
Inzwischen ist Frau Steinbach mit ihrer Rede fertig. Sie verbeugt sich | |
mehrmals vor ihrem Publikum, das nicht aufhört, zu applaudieren. Es ist wie | |
im Theater. Erika Steinbach nimmt wieder Platz. Dann wird sie aufgefordert, | |
wieder aufzustehen und sich noch einmal vor dem klatschenden Publikum zu | |
beugen. | |
Endlich habe ich Empfang und ich kann die Nachricht schicken und meine | |
Mails checken, während weitere Delegierte ihre Reden halten, die sehr viel | |
Lob für Frau Steinbach enthalten. | |
Halb zuhörend bemerke ich, wie gut die kleinen Lautsprecher sind. | |
Vermutlich die Marke "Bose". Ich kann sogar raushören, welcher der Redner | |
eine Zahnprothese trägt. Aus meiner Zeit als studentische Hilfskraft in der | |
Altenpflege weiß ich genau, wie s, z und ß mit und ohne Prothese klingen. | |
Die nächste Rednerin ist eine Landesvertreterin aus Sachsen-Anhalt - zu | |
meiner Überraschung eine Vertretung aus dem Osten der Republik. Bisher | |
hatte ich gedacht, Vertriebensein sei ein westdeutsches Phänomen. | |
"Wir werden alt", mahnt die Rednerin. So, als hätte sie damit etwas ganz | |
Neues entdeckt. Dann macht sie eine kleine Pause und beobachtet die Wirkung | |
ihrer Worte auf den Gesichtern ihrer Zuhörer. "Aber unsere Aufgaben und | |
Verpflichtungen halten uns jung", fügt sie hinzu. | |
Ich nutze die Gelegenheit, online zu sein, und beantworte meine Mails. Mein | |
Nachbar hält die Hand seiner Frau, während ein weiterer Redner Ronald | |
Reagan, "den großen Freund der Deutschen", zitiert. | |
Nach ihrer nicht überraschenden Wiederwahl steht Erika Steinbach den | |
Journalisten zwischen Schnittchen, Kuchenstücken und Süppchen Rede und | |
Antwort. Frau Steinbach ist überraschend groß. Sie betrachtet den | |
Journalisten von oben herab und ich muss wieder feststellen, wie | |
oberflächlich Fernsehen ist. Dort sind Peter Sodann und Erika Steinbach | |
gleich groß. | |
Geduldig beantwortet sie die Fragen der Journalisten. Eine nach der | |
anderen. Wenn also Erika Steinbach, die aus der evangelischen Kirche | |
ausgetreten ist, weil sie nichts von der Segnung gleichgeschlechtlicher | |
Lebensgemeinschaften hält, die Erika Steinbach, die auf ihrer Internetseite | |
die "muslimischen Gruppierungen" auffordert, "Respekt vor diesem Lande, | |
seiner Kultur und seinen Menschen aufzubringen", keine blühenden Wiesen | |
malt, dann ist sie Präsidentin des Bund der Vertriebenen! Ich nehme mir | |
noch ein Süppchen. | |
5 Nov 2010 | |
## AUTOREN | |
Khalid El Kaoutit | |
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