# taz.de -- Politologe über den Erfolg der Grünen: "Voll in der Mitte" | |
> Keine Partei reitet so geschickt auf der Welle der Anti-Politik wie die | |
> Grünen, meint der Politologe Ingolfur Blühdorn. Sie mache derzeit am | |
> wenigsten falsch. | |
Bild: Nicht nur in Berlin beliebt: Die Grünen. | |
taz: Herr Blühdorn, was macht die Grünen gerade jetzt so erfolgreich? | |
Ingolfur Blühdorn: Die Grünen profitieren von einer Kombination von | |
Faktoren, der geringste dabei ist ihre – übrigens durchaus beachtliche – | |
programmatische und personelle Stärke. | |
Was ist es dann? | |
Die SPD findet nur schwer ihre Linie, und die Grünen sind einfach die | |
Oppositionspartei, die derzeit am wenigsten falsch macht. Sie sind auch | |
längst in jeder Hinsicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen und | |
werden von einer immer breiteren Wählerschicht als akzeptable | |
Wahlalternative wahrgenommen. Im übrigen ziehen sie auch Unmutsstimmen an. | |
Warum kann Die Linke keine Proteststimmen aufsammeln? | |
Die Linke steckt in einer Profilkrise. Inhaltlich und personell ist sie | |
derzeit blass. Und für bürgerlich orientierte Wählerkreise ist Die Linke | |
sowieso keine verlässliche Partei. | |
Haben die Grünen ihre Identität nach der Rot-Grünen-Koalition | |
wiedergefunden? | |
Nach dem Ausscheiden aus der Regierung war vollständig unklar, in welche | |
Richtung es gehen sollte. Mit der Agenda 2010 hatten die Regierungsgrünen | |
den Anschluss an die Parteibasis verloren. Dass sie sich ab 2005 wieder um | |
den Anschluss an die soziale Basis und an die sozialen Bewegungen bemühten, | |
war strategisch richtig. Sie haben den Kontakt mit ihren etablierten | |
Wählerkreisen wieder hergestellt und gleichzeitig neue Zielgruppen | |
angesprochen. | |
Und nun bot ihnen die schwarz-gelbe-Regierung ja auch eine Steilvorlage. | |
Ja, mit der Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke traf man die | |
Grünen in ihrem Gründungsmythos und in das Herzstück ihrer Identität. | |
Merkels Atompolitik bietet den Grünen eine einmalige Mobilisierungschance. | |
Diese Politik wird den Grünen auch noch weiter Wähler zufächern. | |
Gerade profitieren die Grünen, die eigentlich eine „Partei der Schiene“ | |
sind, vom Protest gegen den Bau eines Bahnhofes. Ist das nicht paradox? | |
Stuttgart 21 ist nicht bloß ein Bahnhof. Und der Protest kann auch nicht | |
als Kritik an einer „falschen Verkehrspolitik“ begriffen werden. Hier geht | |
es mehr darum, dass viele Bürger sich gegen die abzusehende Dauerbaustelle | |
und das Dauerchaos in der Stadt wenden. Sie wollen lieber die Bäume und den | |
historischen Bahnhofsbau erhalten. Hinzu kommt die Frage, ob in Zeiten der | |
Finanzkrise diese Mega-Investition eigentlich an der richtigen Stelle | |
getätigt wird. | |
Aber das Kostenargument erklärt das Ausmaß des Protests kaum. | |
Nein, Stuttgart 21 hat auch eine Ventilfunktion. Es geht um die symbolische | |
Bedeutung, die das Projekt angenommen hat. Letztlich ist es eine neue Form | |
der Anti-Politik und gerade deshalb für die Grünen anschlussfähig. Es geht | |
darum, „denen da oben“ Bescheid zu sagen. Die Grünen haben diese Welle | |
bisher sehr geschickt geritten und für sich ausnutzen können. Allerdings | |
werden sie wohl noch in Schwierigkeiten kommen. | |
Weshalb? | |
Ganz einfach: Es ist ein Projekt, das sie nicht stoppen können – und das | |
wissen sie. Es ist der Zeitpunkt absehbar, an dem die Stimmung kippen wird. | |
Und wenn die Grünen dann auch noch Regierungsverantwortung haben sollten, | |
wird’s eng. | |
7 Nov 2010 | |
## AUTOREN | |
Markus Schulz | |
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