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# taz.de -- Puerto Ricos krassester Pop-Act: Mit surrealer Pornografie in die C…
> Calle 13 singt Spottlieder auf den Gringo-Lifestyle und ist Puerto Ricos
> derzeit berühmtester Exportartikel. In dieser Woche ist ihr neues Album
> erschienen.
Bild: Tätowierter Badboy: René Pérez, Frontmann von Calle 13.
Ihre Karriere begann mit einem Mord: Im September 2005 erschoss ein
FBI-Kommando im Westen Puerto Ricos den 72-jährigen Filiberto Ojeda Ríos,
Gründer der "Macheteros", einer Guerilla-Truppe, die für die Unabhängigkeit
Puerto Ricos von den USA kämpfen.
30 Stunden später war ein Song über den Tod des greisen Guerilleros online:
"Querido F.B.I.", "Liebes FBI", ein Vier-Minuten-Wut-Stakkato über einem
blechernem Beat, das den damals 27-jährigen Rapper René Pérez alias "El
Residente" schlagartig berühmt machen sollte. "Sie haben unsere Fahne
bepisst" schrie er heraus und: "Hier gibt's 3,9 Millionen Messer, um diesen
Arschlöchern die Zähne rauszuschneiden."
Nicht unbedingt der Jargon, mit dem man in Lateinamerika ein Popstar wird.
Doch nur ein paar Wochen nach dem Anti-FBI-Track erschien das Debut von
Calle 13, das Duo der Halbbrüder René Pérez und Eduardo Cabra und verkaufte
sich eine halbe Million Mal. Die Single "Atrévete" sollte zum Partysong der
nächsten Jahre werden: "Trau dich, komm raus aus dem Einbauschrank, zieh'
dich aus, mach den Nagellack weg", rappt Pérez über einem schweren
Reggaeton-Beat im Cumbia-Swing einer "señorita intelectual" entgegen, die
gerne Coldplay hört und ein "enzyklopädisches Gesicht" macht.
Spottlieder auf den Gringo-Lifestyle der lateinamerikanischen Mittel- und
Oberschichten, sexuell aufgeheizte Reggaeton-Rap-Kaskaden, in denen
schwabbelige Körperteile gepriesen werden: Die surreale, antikoloniale
Pornografie hat den Calle-13-Frontmann in wenigen Jahren zu einer
herausragenden Figur der lateinamerikanischen Popszene gemacht: Ein
tätowierter, viriler Badboy, im Radio boykottiert, von Intellektuellen als
Erfinder einer neuen "Poesie des Schmutzes" gefeiert - und so populär, dass
er mit Shakira bei "Rock in Rio" auftritt.
"Ich habe acht Jahre lang Kunst studiert und mich viel mit dem Dadaismus
beschäftigt", sagt Pérez alias "Residente". "Aber die Straße war mindestens
so wichtig für mich". Sein Halbbruder Eduardo Cabra alias "Visitante" sitzt
neben ihm in der Hotellobby und nickt. "Visitante" ist der stille
Sounddesigner, "Residente" die Rampensau.
Die "Straße" war ihnen nicht in die Wiege gelegt, sie wuchsen in einem
bescheidenen Mittelkasse-Stadtteil auf. Daher auch die Namen: Um seinen
Halbbruder in der Appartmentanlage der "Calle 13" zu besuchen, musste Cabra
einen Pförtner passieren und sich als "Visitante", ausweisen, als Besucher.
Sein Bruder war der "Residente", der Bewohner.
"Ich kam mit dem Blick nach oben zur Welt", heißt es in "Calma Pueblo" vom
neuen Album. Aus dem prolligen HipHop-Reggaeton des ersten Albums ist ein
überbordender, fetter Crossover-Sound geworden, dazu reißen sich im
Videoclip Office-Menschen die Krawatten und Büro-Kostüme vom Leib. Die
Abrechnung mit den Sehnsüchten der "clase media baja", der unteren
Mittelklasse, ist immer wieder Thema bei Calle 13.
Wo seine Klassenbrüder und -schwestern von sauberen Arbeitsplätzen in
Bürotürmen träumen, geißelt Pérez Falschheit und Dummheit: "Meine
schmutzigen Texte sind gebildeter als dein Schweigen", rappt er, und:
"Befrei dich von Klamotten, Marken, Etiketten!" Aufforderungen zu
Regelverletzungen, die im globalen Norden schon lange von der Markenwelt
kooptiert wurden. In Lateinamerika funktionieren sie noch. Oder wieder?
Als MTV im Jahre 2009 den Calle 13-Frontmann als Moderator für die
Verleihung seiner "Awards" engagierte, machte dieser zur Bedingung, dass er
Motto-T-Shirts seiner Wahl tragen kann. "Uribe Paramilitar", stand in
Anspielung auf die paramilitärischen Verbindungen des kolumbianischen
Präsidenten auf einem T-Shirt, "Micheletti reimt sich auf Pinochetti" auf
einem anderen - gemeint war der kurz zuvor an die Macht geputschte
Präsident von Honduras. Selten hat jemand den TV-Entertainment-Zirkus in
Lateinamerika so aufgemischt, wie René Pérez.
Bei ihren Konzerte drehen Calle 13 gerne ein in Lateinamerika
unausweichliches Animations-Ritual um: Dann müssen die Frauen wie Männer
gröhlen, und die Männer kreischen wie die Frauen. "Uns ging es von Anfang
an um Inklusion", erklärt Pérez, der auch mal auf einer Gay-Pride-Parade
auftritt. Und so heißt denn auch das neue Album "Entren lo que quieran" -
"Alle herein, die wollen".
Ein bunter Teller bombastischer Eklektizismus - von Balkan über Bollywood
bis zu Cumbia und Rock. Das Beste daran ist eigentlich das Intro: Eine
dreiminütige Chor-Bigband-Nummer, die im Stile von TV-Show-Overtüren die
Bandgeschichte Revue passieren lässt. "Das ist unser letzte Album mit Sony,
sie schulden uns Geld, wenn sie bezahlt haben, tragen wir es in die
Slums.", tirilliert der Chor. "Und wenn dir das Album im Internet gefällt,
dann kannst du es gerne illegal runterladen."
Größenwahnsinnig sind sie sowieso: "Nur die Ruhe, Volk, ich bin ja da",
shoutet Pérez. "Was du fühlst, fühle ich, denn ich bin du und du bist ich."
Zu viel Messianismus für einen Popstar? Nicht in Lateinamerika. "Chávez als
bester Popkünstler nominiert", stand auch auf einem der Motto-T-Shirts, die
"El Residente" bei den MTV Awards trug.
28 Nov 2010
## AUTOREN
Christoph Twickel
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