# taz.de -- Verbrechen des Stalinismus: Das Volk ist unschuldig | |
> Russlands Erinnerungskultur steht still im Umgang mit den Verbrechen des | |
> Stalinismus. Die Linie Putins setzt auf diffuse Vorstellungen von Macht | |
> und Schuld. | |
Bild: Dieses Stalin-Denkmal wurde im Juni 2010 in Tbilisi, der georgischen Haup… | |
Bekanntlich ist Deutschland der Champion der Vergangenheitsbewältigung und | |
führend im Export guter Ratschläge, wie man sich richtig an historische | |
Untaten im eigenen Land erinnern soll. Die Fachtagung des vergangenen | |
Wochenendes in Jena, veranstaltet von der Gesellschaft für Osteuropakunde | |
und unterstützt von dem gerade gegründeten Imre-Kertész-Kolleg, widerstand | |
erfreulicherweise dieser Exportpraxis. Es ging um die Erinnerungskultur im | |
heutigen Russland, also den Stand der Auseinandersetzung mit den | |
"sowjetischen Gesellschaftsverbrechen" der Stalinzeit. | |
Meist junge deutsche und russische Wissenschaftler beschränkten sich nicht | |
auf die Wiederholung des Gemeinplatzes, dass die Russen sich partout nicht | |
der Geschichte der Stalinzeit stellen wollten. Sie präsentierten | |
stattdessen Untersuchungen, die sie "vor Ort", das heißt in einer Reihe von | |
ehemaligen Straflagern des Gulag vorgenommen haben. | |
Stalin und das Volk | |
Zunächst aber wurden die politischen Rahmenbedingungen des Erinnerns | |
analysiert. Seit Putins Machtantritt hat sich in Forschung, Unterricht und | |
Medien eine nationalpatriotische Interpretationslinie durchgesetzt, die ein | |
positives Gesamtbild der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts | |
zeichnet. Begünstigt wird diese Ideologie durch die weit verbreitete | |
Vorstellung, dass nicht der Staat politischer Akteur ist, also ein | |
Institutionensystem samt greifbaren Verantwortlichkeiten, sondern eine | |
diffus verstandene "Macht". Die "Macht", verkörpert durch Stalin, steht | |
"dem Volk" gegenüber. | |
Daraus folgt, so Jörg Ganzenmüller in Jena, dass eine Reihe von Fragen gar | |
nicht erst gestellt werden. Zum Beispiel die nach den Nutznießern des | |
Massenterrors, der einer ganzen Generation den gesellschaftlichen Aufstieg | |
ermöglichte. Waren die Erfolge des sozialistischen Aufbaus und die | |
Verteidigung der sowjetischen Heimat gegen die Nazis im Bewusstsein der | |
Sowjetmenschen nicht untrennbar mit Stalins Namen verknüpft? | |
Dabei wird von den patriotischen Ideologen argumentiert, dass die Erfolge | |
der "sozialistischen Modernisierung" wie auch der Sieg über Nazideutschland | |
im Zweiten Weltkrieg nicht wegen, sondern trotz Stalin erreicht worden | |
sind. Der Akteur der russischen Geschichte ist dieser Ideologie zufolge das | |
Volk, und das Volk ist unschuldig. | |
Die Analyse der heutigen russischen Schulbücher, wie sie in Jena von | |
Michael Melnikow vorgenommen wurde, bestätigt diese Form der | |
Geschichtspolitik. Über die Aufnahme eines Geschichtsbuchs in die Liste der | |
empfohlenen Unterrichtswerke entscheidet eine Arbeitsgruppe in der | |
russischen Akademie der Wissenschaften, die auf die Durchsetzung der | |
Putinschen patriotischen Linie "Stabilität und Einheit" des russischen | |
Volkes getrimmt ist. Aber nicht nur in der offiziellen Geschichtspolitik | |
wird "das Volk" im Ganzen zum unschuldigen Opfer des stalinistischen | |
Terrors. | |
Das Kreuz mit der Kirche | |
Wie Anna Schor-Tschudnowskaja feststellte, folgt auch die verdienstvolle | |
Vereinigung Memorial, die in den letzten 20 Jahren um eine | |
zivilgesellschaftlich inspirierte Erinnerung an die Opfer des Stalinismus | |
bemüht war, dieser emphatischen Vorstellung vom unschuldigen Volk. Dieser | |
Haltung entspricht die programmatische Festlegung von Memorial, nicht von | |
Tätern zu sprechen und deshalb auch nicht von Schuld. | |
Von den Untersuchungen "vor Ort" sei zum einen Zuzanna Bogumils Darstellung | |
der Auseinandersetzungen hervorgehoben, die in Magadan die Errichtung eines | |
Mahnmals für die Opfer des schrecklichen Gulag in der Region Kolyma im | |
nordöstlichen Sibirien begleiteten. Die orthodoxe Kirche wandte sich gegen | |
die Darstellung eines Leidenden am Kreuz, der nicht Christus war, sondern | |
ein Gefangener, der sich zudem vom Kreuz losreißen wollte. Das sei | |
Blasphemie, wetterten die Orthodoxen, konnten sich allerdings hier nicht | |
durchsetzen. | |
Das Referat von Margarete Zimmermann war der Analyse einer nach 2000 | |
gemalten Ikone gewidmet, anhand deren die Erinnerungspolitik der Orthodoxen | |
dargestellt wurde. Gezeigt wird im unteren Drittel der Ikone eine | |
Massenerschießung gläubiger Christen am Hinrichtungsort Butovo. Die Kirche | |
ist also prinzipiell Opfer, und ihre spätere Kollaborationspolitik | |
gegenüber der Stalinschen Herrschaft wird ausgeblendet. Ulrike Huhn | |
berichtete von den Auseinandersetzungen im sibirischen Perm, wo eine zivil | |
betriebene, den Insassen des Straflagers der Stalinzeit gewidmete | |
Gedenkstätte neben einem auch heute noch "arbeitenden" Lager existiert. | |
Im Museum dieses Lagers werden die Verdienste der ehemaligen | |
Lagerkommandeure und hervorragender Mitglieder des Wachpersonals gewürdigt. | |
Wie auch aus dem Referat von Ekaterina Makhotina über den Weißmeerkanal | |
hervorging, wird die Erinnerung an die Opfer der Zwangsarbeit oftmals | |
überschattet von Monumenten, die die Errungenschaften der Stalinzeit | |
feiern. Auch die an Orten ehemaliger Lager Lebenden haben häufig ein | |
positives Verhältnis zur Stalinzeit. Kein Wunder, wenn man die Verarmung | |
breiter Bevölkerungsschichten seit 1990 bedenkt. | |
29 Nov 2010 | |
## AUTOREN | |
Christian Semler | |
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