# taz.de -- ARD-Rechtsexperte über Kachelmann und Co.: "Erst spricht das Geric… | |
> Über 20 Jahre hat Karl-Dieter Möller in der ARD die Urteile von | |
> Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht erklärt. Jetzt geht er in | |
> Rente. | |
Bild: Karl-Dieter Möller, unser Mann in Karlsruhe, geht in Rente. | |
Auf dem Tisch liegt die aktuelle "Bild"-Zeitung, vorne drauf das Foto des | |
mutmaßlichen Opfers von Jörg Kachelmann, das sich ein Buch vors Gesicht | |
hält. | |
Karl-Dieter Möller (tippt auf die Titelseite): Gestern ist im | |
Kachelmann-Prozess nichts passiert. Und was macht die Bild? Sie blasen auf | |
dem Titel einen Bildausschnitt so auf, dass man das Buchcover sieht: "Der | |
Soziopath von nebenan". Dieser Prozess macht mich noch kirre. | |
taz: Wieso? | |
Schon allein die Sicherheitsvorschriften. Die sind so extrem, als ginge es | |
um Terroristen oder Rockerbanden. Ich musste fünfmal die Schuhe ausziehen, | |
das war reine Schikane. Die Kollegin Friedrichsen vom Spiegel musste ihren | |
Kamm abgeben, Uhren, Handys nichts durfte mit rein. Wenn das so weitergeht, | |
sollten wir vielleicht was unternehmen. | |
Sie haben sich ja am Anfang mit der Berichterstattung sehr zurückgehalten. | |
Nicht nur am Anfang. Wir haben entschieden, dass wir nur dann in den | |
Prozess einsteigen, wenn etwas Nachrichtenwert hat. Was das | |
Boulevardmagazin "Brisant" macht, ist etwas anderes. | |
Wurde das intern debattiert? | |
Sicher, schließlich bekamen wir heftige Schelte von den Printmedien: Weil | |
es ein ARD-Mann sei, würden wir ihn schonen. Wir haben nachgeschaut. Bei | |
anderen großen Prozessen sind wir genauso verfahren. | |
Wie haben Sie entschieden, was Potenzial hat für "Tagesschau" und | |
"Tagesthemen"? | |
Die Kollegen aus Hamburg haben gesagt: Der Möller soll sagen, was wir | |
machen sollen. Sie interessiert, wie viele Leute das betrifft, welchen | |
Mehrwert das für die "Oma aus Uelzen" hat. | |
Sie fingen 1979 mit einem Mordprozess an. Wie war das damals? | |
Der Fall war bundesweit in den Medien. Da haben zwei Jugendliche in einer | |
Jagdhütte im Hunsrück einen Vater und seinen kleinen Sohn erschossen. Ich | |
war gerade drei Wochen beim ZDF, da haben die Kollegen mich zum Ortstermin | |
dorthin geschickt. Es war saukalt, die mussten den Gefangenenbus mit dem | |
Trecker da hochziehen, weil alles vereist war. Ich stand drei Meter von den | |
Tätern entfernt. Mir war innerlich und äußerlich total kalt. Jedes Mal, | |
wenn ich die Autobahn bei Rheinböllen entlangfahre, muss ich daran denken. | |
Die beiden sind übrigens längst wieder auf freiem Fuß. | |
Das Bundesverfassungsgericht liegt in Karlsruhe neben dem Schloss, der | |
Bundesgerichtshof ein paar Straßen weiter, mitten in der Innenstadt. Was | |
ist das für eine Atmosphäre? | |
Wenn man durch die Stadt geht, trifft man mal den einen Bundesrichter, mal | |
den anderen. Man sagt: Karlsruhe hat viele Gesichter, aber jedes dritte | |
gehört einem Richter. Kein Wunder, hier gibt es alle Instanzen: | |
Arbeitsgericht, Sozialgericht, Verwaltungsgericht, Amtsgericht, | |
Landgericht, Oberlandesgericht, das hat keine andere Stadt. | |
Ist diese Nähe nicht auch problematisch? | |
Es gibt keine Nähe, das ist anders als in der Politik. Hier muss man den | |
Richtern hinterherlaufen, die haben es nicht nötig, etwas zu sagen, | |
Hintergrundgespräche gibt es nicht. | |
Welche Rolle spielen die beiden Instanzen für Karlsruhe? | |
Jetzt, wo der KSC so schlecht spielt, sind sie die Einzigen, wofür die | |
Stadt bekannt ist. Ich habe dem OB aus Spaß mal vorgerechnet: Wir machen im | |
Jahr über eine Stunde Werbung für Karlsruhe, und das zur Primetime. Das | |
würde sonst - schätze ich - eine Million Euro kosten. | |
Lohnt es sich, die Häuser anzuschauen? | |
Das Bundesverfassungsgericht ist ein moderner Bau aus den Sechzigern. Ich | |
mag ihn sehr. Es ist eine wunderbare Weise, das Recht so lichtdurchflutet | |
und transparent zu zeigen. Der Bundesgerichtshof liegt im Erbherzoglichen | |
Palais. Dessen Geschichte erinnert mich an Stuttgart 21: Der Bau sollte - | |
habe ich gelesen - etwas über eine Million Goldmark kosten. Am Ende waren | |
es über zwei Millionen. | |
Apropos Stuttgart 21: Überall ist derzeit von der Protestkultur des Volkes | |
die Rede. Sehen Sie da eine neue Ära? | |
Ja, da passiert etwas Neues. Auf der einen Seite haben wir die neue | |
Protestkultur - das ist Demokratie. Auf der anderen Seite haben wir die | |
Egoisten: Sie protestieren nur, wenn die Realität sie einholt. Nehmen Sie | |
Berlin, wo jetzt auf einmal Flugrouten neu festgelegt werden. Als Bürger | |
würde ich mir da auch "verarscht" vorkommen. | |
Auch die Politiker ziehen gern vors Bundesverfassungsgericht. Als | |
Bundespräsident wetterte Horst Köhler im Mai gegen diese "Klagewut", das | |
Gericht sei zur Zweitregierung geworden, sagen Kritiker. Berechtigt? | |
Den Vorwurf gibt es, seit es das Bundesverfassungsgericht gibt. Das sind | |
reine Drohgebärden. Allerdings, was gesellschaftspolitisch relevant ist, | |
wird oft zum Schluss hier ausgetragen. | |
Überhaupt scheinen die Deutschen sehr klagefreudig, die Gerichte, hört man, | |
platzen aus allen Nähten. | |
Ja, die Prozesshanselei nimmt zu, vor allem bei | |
Nachbarschaftsstreitigkeiten. Da haben wir den Egoismus wieder. Mein Rat: | |
Es ist oftmals besser, mit dem Unrecht seinen Frieden zu schließen, als dem | |
Recht ständig hinterherzulaufen. Wer wegen so etwas vor Gericht zieht, | |
wirft Geld zum Fenster raus. Ein Kompromiss ist billiger und schneller. | |
Dass es mehr geworden ist, merken wir auch in der Redaktion. | |
Woran? | |
Wir bekommen wöchentlich etwa 20 Fälle, die Zuschauer schicken uns ganze | |
Krankenakten, Unterlagen vom Sozialamt. Ohne pathetisch klingen zu wollen: | |
Diese Post ist für uns wichtig. Wir müssen uns ein Gefühl für Unrecht | |
bewahren. | |
Wie kann man das verlieren? | |
Das ist wie beim Chirurgen. Überspitzt formuliert: Hat der noch Bedenken, | |
wenn er ein Bein amputiert, und hinterher war es das falsche? Vielleicht | |
erst, wenn die Schadenersatzklage kommt. Man stumpft, ohne es zu wollen, | |
einfach ab. | |
Haben Sie selbst schon geklagt? | |
Ja! Und gewonnen. Bei einem Prozess durften wir zu Beginn nicht drehen. Da | |
sind wir zum Bundesverfassungsgericht. Und bekamen recht. Seit der Zeit | |
müssen sich Richter und Staatsanwälte drehen lassen. | |
War das früher anders? | |
Als Roman Herzog noch Präsident am Verfassungsgericht war, sagte er: Drehen | |
Sie so viel Sie wollen. Wir standen hinter einer Glastüre und filmten ohne | |
Ton, die Richter spiegelten sich in den Scheiben, Oskar Lafontaine stand | |
vor der Richterbank. Da komme ich richtig ins Schwärmen! Heute dürfen wir | |
das nicht mehr. Dafür übertragen wir jetzt große Prozesse live auf Phoenix, | |
etwa als es um die Fahrtkostenpauschale ging. Wir hatten, glaube ich, 12 | |
Prozent Marktanteil. Vormittags! | |
Wenn Sie schon so schwärmen: Was war denn die beste Zeit? | |
Am spannendsten war es sicher nach der Wende. 1990 habe ich sie politisch | |
erlebt - und dann ein Jahrzehnt lang hier in Karlsruhe den Übergang eines | |
Landes von einem Rechtssystem ins andere begleitet. Da war der | |
Mauerschützenprozess unter Jutta Limbach, Klagen gegen Kündigungen wegen | |
Stasivergangenheit, Markus Wolf stand hier vor Gericht. Und die Linke gäbe | |
es nicht, wenn das Bundesverfassungsgericht nicht nach der Wende | |
kurzfristig die Fünfprozenthürde ausgesetzt hätte. | |
Klingt, als seien Sie Verfassungspatriot. | |
Na ja. Wir haben sehr viel Glück mit dem Grundgesetz, da steht alles drin, | |
was wichtig ist. Und das Bundesverfassungsgericht ist die Instanz, die uns | |
diese Freiheiten erhält. Einem Richter wie Udo Di Fabio zuzuhören, das ist | |
"à la bonheur"! | |
Ihr Vater war auch Jurist. Hatten Sie keine Wahl? | |
Ich wollte ja kein Jurist werden und habe zunächst Politik und Publizistik | |
studiert. Und dann eben doch Jura. Ich hatte sogar schon eine Richterstelle | |
- trat sie aber nicht an. Stattdessen ging ich zur Aachener Volkszeitung, | |
dann zum ZDF. Die Justiz von innen zu kennen macht unabhängig. Wer kein | |
Zweites Staatsexamen hat, kann hier nicht Redakteur werden. Und diese | |
Fachkenntnis wird immer wichtiger. | |
Inwiefern? | |
Beim Benaissa-Prozess hieß es etwa in den Medien, die könnte bis zu zehn | |
Jahre bekommen. So ein dummes Zeug! Wenn man am Amtsgericht angeklagt ist, | |
kann die Freiheitsstrafe höchstens vier Jahre betragen. Ich habe von Anfang | |
an getippt, es gibt zwei Jahre mit Bewährung. Was ist rausgekommen? Zwei | |
Jahre mit Bewährung. Was nachdenklich stimmt, ist die Berichterstattung | |
bereits über Ermittlungsverfahren. Von Unschuldsvermutung oft keine Spur | |
mehr. | |
Die Medienöffentlichkeit wird eben zur Ersatzjury. | |
Ja, die kennen wir ja nur aus amerikanischen Filmen. Da taucht auch der | |
Hammer als Rechtssymbol auf - den gibt es hier überhaupt nicht. | |
Kein Wunder, US-Anwaltsserien sind hier ja sehr populär. Schauen Sie so | |
etwas? | |
Nein, ich bin abends schlicht zu müde. Aber ab und an schalte ich bei Frau | |
Salesch rein, ich kenne sie von früher. Die hätte in ihrer Sendung einen | |
Vergewaltigungsprozess wie den Fall Kachelmann in 14 Minuten verhandelt. | |
Und dann sitzt da eine Tussi, Ausschnitt bis hier. Ich goutiere diese Shows | |
nicht, aber man kann zumindest die Verfahrensabläufe kennenlernen. Nur: Mit | |
der Realität haben sie nichts zu tun. | |
Wie sollte denn die Gerichtsberichterstattung aussehen? | |
Eigentlich müsste man die Gerichte von Garmisch-Patenkirchen bis Hamburg | |
abdecken, um Richter und Verhandlungsführung beurteilen zu können. Aber das | |
föderale System der ARD wirft uns da im Vergleich zum ZDF etwas zurück. | |
Man könnte doch auch so ein Netzwerk aufbauen, oder? | |
Das ist in der ARD gar nicht durchzusetzen. Es gibt, sage ich oft | |
augenzwinkernd, noch eine monarchistische Verfassung in Deutschland, und | |
das ist die Intendantenverfassung. Ich wollte immer, dass wir von hier aus | |
auch die europäischen Entscheidungen mit betreuen, in Straßburg und | |
Luxemburg. Dass am Mittwoch entschieden wurde, dass der SWR das ab 2012 | |
übernehmen wird, ist eine späte Genugtuung. Manchmal braucht eine gute Idee | |
eben Jahrzehnte, bis sie sich durchsetzt. Das europäische Recht wird | |
schließlich immer wichtiger. Und was hier in Karlsruhe verhandelt wird, | |
landet ja danach oft am Europäischen Gerichtshof. Näher als von Brüssel ist | |
es von hier aus auch. | |
Welch Glück, dass Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof nicht in | |
Berlin sind. | |
Absolut. In der Hauptstadt laufen die Informationen schneller durch die | |
Ritzen. Einmal rief ein Kollege an, die Konkurrenz habe gemeldet, dass das | |
NPD-Verbot nicht durchgehe, wieso wir das nicht hätten. Ich wusste das | |
schon eine Woche vorher, aber unser Kodex hier ist: Erst spricht das | |
Gericht, dann sprechen wir. Dass ich manchmal ein bisschen mehr | |
Informationen als Kollegen habe, liegt vielleicht an meinem | |
Bekanntheitsgrad oder meiner Seriosität. Anwälte und Richter wissen: Bei | |
dem sind Informationen sicher. | |
Ihr Image verdanken Sie auch dem akkuraten Schnauzer. | |
Akkurat? Ich höre dauernd, ich solle ihn stutzen lassen. Er ist eine | |
Reminiszenz an meine Studentenzeit, das trug man damals. Alle anderen haben | |
ihn längst abrasiert. | |
4 Dec 2010 | |
## AUTOREN | |
Anne Haeming | |
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