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# taz.de -- Neue tschechische Bürgerlichkeit: Nie war Prag reicher
> Wie die Prager versuchten, ihre Stadt der Mafia zu entreißen, und dabei
> fast gewonnen hätten. Ein Stadtporträt.
Bild: Nachtleben in Prag.
Die Angst der grauen Herren sprang sofort ins Auge. Schon bei der Einfahrt
in die Stadt über die achtspurige Magistrale, vorbei an der Festung des
tausendjährigen Vysehrad, verhüllten ihre Wahlplakate ganze
Mietshausfassaden. Größere Plakate hatte es nie zuvor gegeben. Größere
Wahlversprechen - ein neuer Skating-Park, Schulautomaten für Milch - auch
nicht. 20 Jahre lang, seit der politischen Wende, hatte die ebenso
neoliberale wie nationale ODS-Partei von Staatspräsident Vaclav Klaus Prag
regiert, doch nun drohte die Abwahl. Und dies ausgerechnet durch den über
70-jährigen böhmisch-österreichischen Adeligen Karel Schwarzenberg, für den
sich vor allem junge Leute, ja, besonders junge Frauen begeistern können.
Dabei hatten die Nationalliberalen die Stadt gar nicht so schlecht regiert.
Nie glänzte das Gold der Heiligenscheine auf den barocken Kirchen der
Kleinseite heller, nie waren die Jugendstilpaläste im jüdischen Viertel
bunter als in diesen Tagen. Nie war Prag reicher, nie lebendiger. Das
Bruttoinlandsprodukt hat mit 165 Prozent des EU-Durchschnitts das von
Berlin mit 98 Prozent weit hinter sich gelassen. Warum also diese
Wechselstimmung?
Wer verstehen will, was schiefläuft in Prag, der muss zunächst zum
Wenzelsplatz gehen. Ausgerechnet zum Wenzelsplatz, den viele mit der
Pariser Champs-Élysées vergleichen. Doch nicht Chanel oder Prada, sondern
McDonalds und C&A haben sich hier niedergelassen. Touristen drängen sich
vor billigen Glasgeschäften und trinken auf schmuddeligen Terrassen
überteuertes Bier. In der Nacht aber wird die bekannteste Straße Prags zum
Straßenstrich, auf dem dunkelhäutige junge Männer Dienstleistungen aller
Art anbieten. Prager trifft man hier kaum. Die haben sich in die
funktionalistischen Passagen der Zwischenkriegszeit zu Sushi, Jasmintee und
- ja, man will es kaum glauben - alkoholfreiem Bier zurückgezogen. Doch
nicht nur der Wenzelsplatz verkommt.
Zugleich lässt die Partei, die die Selbstbestimmung des tschechischen
Volkes ständig auf den Lippen führt, die Bauwerke der nationalen
Gründerzeit verkommen. Nationalmuseum und Nationaltheater sind so
verdreckt, dass man die Konturen der tschechischen Geistesgrößen auf den
Podesten kaum mehr erkennen kann.
Nicht, dass kein Geld da wäre, doch das wird anderweitig ausgegeben. Für
den Bau immer neuer Autobahnen zum Beispiel. Die gesamte Letna-Ebene, dort,
wo einst das weltgrößte Stalindenkmal stand, ist zu einer einzigen
Baustelle geworden. Hier entsteht ein Straßentunnel, der den Namen „Blanka“
trägt, bereits dreimal einstürzte und von der Unesco wegen der vermuteten
Auswirkungen auf historische Bauwerke untersucht wird. Die Vergabe der
Bauaufträge für Blanka wird Journalisten und Staatsanwälte wohl noch
jahrelang beschäftigen. Ebenso wie der Skandal um den undurchsichtigen
Millionenauftrag für die „Opencard“, einer Chipkarte für Prager und
Touristen, die man zum Bezahlen von Fahrkarten und Parktickets benutzen
kann. Mafiaplatz, so nennen die Prager inzwischen den Marienplatz, an dem
das Rathaus der Hauptstadt steht. Korruption und Verkehrsprobleme waren den
Umfragen zufolge die wichtigsten Gründe für die Niederlage der
Nationalliberalen.
Warum Karel Schwarzenbergs „TOP 09“ nur ein Jahr nach ihrer Gründung mit 30
Prozent stärkste Partei der Hauptstadt werden konnte, zeigt sich vielleicht
am besten abseits des von Touristen okkupierten Zentrums. In einem
Stadtteil, der in der Gründerzeit des 19. Jahrhunderts inmitten von
Weinbergen entstand und seitdem das beliebteste Wohnviertel der Prager
Mittelschicht ist.
Vinohrady, Platz „Jiriho z Podebrad“ an einem Markttag. Was es im ganzen
Land seit 20 Jahren nicht mehr gibt, hier ist es zu sehen: lange Schlangen
von Käufern, die geduldig darauf warten, die dick mit Pflaumenmus
bestrichenen böhmischen Kolatschen und neuen Prager (!) Wein zu kaufen.
Besonders lang sind die Schlangen vor den Ständen mit geräucherten Würsten,
nahezu alles kommt aus der Region, vieles davon aus biologischem Anbau.
Seitdem die tschechischen Bauern Subventionen von der EU bekommen, erlebt
das Land einen wahren Bioboom. Neben der Stadtteilkirche wirbt eine
Initiative für Verkehrsberuhigung, tatsächlich haben solche Initiativen bei
den Wahlen in vielen Bezirken sehr gute Ergebnisse erzielt, ja manchmal die
Wahl sogar gewonnen.
Eine aktive Bürgergesellschaft hat sich entwickelt. Die Zahl der
Kulturinitiativen ist nicht zu überblicken, kaum eine Passage, in der sich
kein Theater, Kino oder Musikclub findet, über tausend
Theaterinszenierungen werden jedes Jahr gezählt. Das betrifft selbst die
deutsche Tradition. In der Stadt Kafkas und Werfels gibt es jetzt erstmals
ein deutsches Literaturhaus, seit zehn Jahren findet ein deutsches
Theaterfestival statt. Zugleich sind die Filmstudios in Barrandov zu einem
Zentrum der internationalen Filmproduktion geworden, Tom Cruise kann man
auf dem Hradschin begegnen, wo er gerade die vierte Folge von „Mission:
Impossible“ dreht.
Prag ist heute zugleich „pragerischer“ und internationaler als je zuvor.
Eine Feststellung, die auch für die Wahlsieger dieses Herbstes gilt - was
sich bereits am Namen TOP 09 zeigt. Das steht für Tradition, Verantwortung,
Prosperität.
Konkret bedeutet das: Nachdem die jungen Prager, die 30- bis 40-jährigen,
sich jahrelang nur um ihre Karriere gekümmert haben und Politik als absolut
out galt, wollen sie ihre Stadt nun nicht länger den Parteipolitikern
überlassen. Nicht zufällig kommen viele führende Mitglieder der TOP 09 aus
dem Umkreis von Vaclav Havel, der ganz in der Tradition Masaryks eine
„aktive Bürgerarbeit“ fordert und mit seinem „Zurück nach Europa“ das
wichtigste Schlagwort der Revolution prägte.
Doch von Havel oder Schwarzenberg wollen sich die Nationalliberalen nicht
die Butter vom Brot oder besser die (Bestechungs-)Kronen aus der Hand
nehmen lassen. Bei den Kommunalwahlen brachen sie zwar von 50 auf 23
Prozent ein, doch um an der Macht bleiben zu können, waren sie selbst zur
Zusammenarbeit mit der Linken bereit und schlossen vor wenigen Tagen ein
Bündnis mit den Sozialdemokraten. Die freuten sich, mit ihren 19 Prozent am
Mafiaplatz noch für etwas gut zu sein.
Daher finden in der tschechischen Hauptstadt jetzt wieder Demonstrationen
statt. Demonstrationen, die nicht von Parteien, sondern von aufgebrachten
Bürgern organisiert werden. Auch Vaclav Havel schaute schon vorbei.
9 Dec 2010
## AUTOREN
Sabine Herre
## TAGS
Reiseland Tschechien
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