Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Teilchenbeschleuniger am Cern: Blei-Beschuss für Antimaterie
> Im Teilchenbeschleuniger am Cern experimentieren die Forscher jetzt mit
> Schwerionen aus Blei. Die Rahmenbedingungen geben Anlass zu
> Spekulationen.
Bild: Hier kollidieren künftig Blei-Ionen: Teilchenbeschleuniger am Cern.
Die gute Nachricht zuerst - wir leben noch. Bevor nach langen
Anlaufschwierigkeiten am 30. März 2010 im größten Teilchenbeschleuniger der
Welt, am Cern, unweit des Genfer Sees Protonen mit einer Energie von
jeweils 3,5 Tera-Elektronenvolt aufeinandertrafen, berichteten manche
Boulevardmedien vom drohenden Weltuntergang. Der ist ausgeblieben.
Vor kurzem haben die Forscher am Cern neue Experimente begonnen. Sie haben
ihre "Projektile" gewechselt. Jetzt lassen sie schwere Ionen aus Blei
aufeinanderprallen. Bereits zuvor konnten sie mit den Wasserstoff-Versuchen
ersten Erfolge verkünden. So ist ihnen gelungen Anti-Wasserstoff-Ionen zu
erzeugen und für eine Fünftelsekunde zu stabilisieren. Lang genug, um die
Antimaterie genauer zu untersuchen.
Bei diesen physikalischen Experimenten würden winzig kleine Schwarze Löcher
entstehen, die unseren Planeten verschlucken könnten, prophezeiten
seinerzeits die Weltuntergangs-Warner. Tatsächlich sind deren große
Artgenossen, die weit weg im Universum ihr Unwesen treiben, verantwortlich
für den Tod ganzer Sonnensysteme. Eine Übertragbarkeit jenes Geschehens auf
das irdische physikalische Experiment hielten aber schon Anfang des Jahres
fast alle Wissenschaftler für unmöglich.
Das Cern, die europäische Organisation für Kernforschung, die ihren Sitz im
Schweizer Kanton Genf hat und das Experiment durchführt, gab eine Expertise
in Auftrag. Die über hundert Seiten starke Veröffentlichung, von den
renommiertesten Teilchenphysikern der Welt verfasst, erklärte der
Öffentlichkeit die Ungefährlichkeit der künstlichen Protonenkollision. Ihr
Resümee klingt einleuchtend. In der Natur fänden ständig die gleichen
Phänomene statt, ohne dass es zu gefährlichen Entwicklungen käme.
Die Rahmenbedingungen allerdings für dieses aufsehenerregende Experiment
geben Anlass zu Spekulationen. Der Teilchenbeschleuniger Large Hadron
Collider (LHC) befindet sich bis zu 140 Meter tief unter der Erde. Der
ringförmige Tunnel, der mit Elektromagneten und Kühlsystemen gefüllt ist,
hat eine Länge von knapp 27 Kilometern. Die Teilchen, die
aufeinanderprallen, werden zuvor fast bis zur Lichtgeschwindigkeit
beschleunigt.
Beim Aufprall entstehen winzige Feuerbälle, die eine Temperatur von 10
Billionen Grad Celsius haben. Somit sind diese Punkte, die kleiner als ein
Atom sind, etwa 1 Million Mal heißer als unsere Sonne. Verschiedene
haushohe Detektoren, die in riesigen Kavernen am Tunnel installiert sind,
messen die unterschiedlichen Zerfallsprodukte. Die gewonnenen Erkenntnisse
werden von tausenden von Forschern auf der ganzen Welt ausgewertet.
Insgesamt über 8.000 Gastwissenschaftler aus 85 Nationen arbeiten an
Cern-Experimenten. Einer davon ist Wolfgang Wagner, Professor an der
Bergischen Universität Wuppertal. Der Teilchenphysiker hofft, das
Verständnis davon, was die Welt zusammenhält, radikal verändern zu können.
Wenn er von seinem Arbeitsgebiet erzählt, wird es für Laien schnell
kompliziert. Neutronen, Protonen und Elektronen, so lernten noch vor 40
Jahren Kinder in der Schule, seien die kleinsten Bausteine, aus denen alle
Atome und somit das gesamte Universum zusammengesetzt sei. Schon zu jener
Zeit allerdings wurde die Existenz noch kleinerer Bausteine, sogenannter
Quarks, bewiesen.
Inzwischen unterscheidet man sechs verschiedene Quarks, deren Namen sich
tatsächlich vom deutschen Wort für ein Molkereiprodukt ableitet. Up- und
Down-Quarks wurden als Erste gefunden, später gesellten sich Strange-,
Charme-, Bottom- und Top-Quarks hinzu. Wagner nun möchte zusammen mit
seinen Kollegen mehr über diese Teilchen erfahren. Denn trotz aller
Forschung kann die Physik nicht abschließend erklären, wie die Masse der
Materie zustande kommt.
"Wenn sich ein Mensch, der 100 Kilogramm schwer ist, auf eine Waage stellt,
verstehen wir 98 Kilogramm. 2 Kilogramm können wir zurzeit nicht erklären",
so Wagner. Seit Ende 2009 werden am LHC Protonen aufeinandergeschossen, um
die Frage nach der Masse der Elementarteilchen zu klären. "100 Milliarden
Mal müssen wir dieses Experiment wiederholen, bis etwas Neues passiert",
berichtet der Forscher aus Wuppertal.
Bislang geht die Physik davon aus, dass es ein sogenanntes Higgs-Teilchen
geben muss, das für das Gewicht der Elementarteilchen sorgt. Der
Nobelpreisträger Leon Lederman aus den USA nannte es auch Gott-Teilchen,
weil er glaubte, darin die Existenz Gottes physikalisch nachweisen zu
können. Wolfgang Wagner lehnt diesen Begriff ab, ist aber gespannt, mehr
über das letztlich unbekannte Teilchen zu erfahren. "Neue Erkenntnisse
könnten das Bild, das wir von aller Existenz haben, revolutionieren."
Auch Rolf-Dieter Heuer glaubt, dass das Mysterium des Higgs-Teilchens durch
den LHC gelüftet werden kann. Der Generaldirektor des Cern geht allerdings
von Jahren aus, bis Ergebnisse auf diesem Gebiet vorliegen. Er vergleicht
die Arbeit am Cern mit der Beobachtung einer Wiese. "Wir sehen alle das
gleiche Objekt, suchen aber nach unterschiedlichen Phänomenen."
Manche Wissenschaftler würden, in der Metapher bleibend, nach Glockenblumen
suchen, andere nach vier- oder gar fünfblättrigem Klee. Ein vierblättriges
Kleeblatt wäre das Higgs-Teilchen. Insgesamt verteidigt Cern-Direktor Heuer
den immensen Forschungsaufwand, der am Cern betrieben wird. "Wenn man
weiter nur Kerzen beobachtet hätte, wäre es nie zur Entwicklung der
elektrischen Glühbirne gekommen."
Er plädiert für eine zwar zielorientierte, aber freie Forschung. Gefahren
sieht er nicht. Zu dem prominentesten und härtesten Kritiker des Cern, dem
Chaosforscher Otto E. Rössler, möchte er sich nicht äußern. Der von vielen
Wissenschaftlern als Scharlatan gescholtene ehemalige Dozent der Uni
Tübingen hat auch neun Monate nach Beginn der Experimente eine ganz andere
Sicht der Dinge: "In fünf Jahren wird die Erde einen Durchmesser von zwei
Zentimetern haben." Kritiker des Kritikers allerdings sagen: "Herr Rössler
hat noch nicht einmal die Relativitätstheorie richtig verstanden."
16 Dec 2010
## AUTOREN
Lutz Debus
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.