| # taz.de -- Hirnforschung und Internet: Macht Google dumm? | |
| > Das Internet ist eine große Zerstreuungsmaschine, schreibt der Autor | |
| > Nicholas Carr. Die ganzen Hyperlinks würden uns eher hyperhektisch machen | |
| > als ein bisschen klüger. | |
| Bild: Böses, böses Internet! Es zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich, nur um … | |
| Sie werden es nicht gemerkt haben. Aber nach allem, was die Hirnforschung | |
| derzeit hergibt, ist in Ihrem dorsolateralen präfrontalen Kortex gerade | |
| eine erhöhte Aktivität festzustellen gewesen. Jetzt warten Sie erst mal und | |
| googeln das nicht gleich. Schlagen Sie es bitte auch nicht auf Wikipedia | |
| nach oder auf meinhirn.de. Der präfrontale Kortex befindet sich in der | |
| linken vorderen Hirngegend. Die Region wird aktiv, wenn wir Entscheidungen | |
| treffen. Und Sie haben sich ja gerade entschieden, die ersten Sätze dieses | |
| Texts zu lesen. | |
| Sollten Sie das auf taz.de tun, wächst mit jedem Wort die Gefahr, dass sich | |
| in Ihrem präfrontalen Kortex wieder etwas regt, es klick macht und Sie weg | |
| sind, weil Sie wissen, dass noch viel mehr Bilder und Videos und Töne und | |
| Witze und Was-haben-Sie-alles-noch-nicht-gesehen auf Sie warten könnte. | |
| Wenn Sie sich schon ans Immer-weiter-Surfen gewöhnt haben, dann werden Sie | |
| schön langsam ungeduldig, je länger das hier geht, so eine Unruhe, bestimmt | |
| zwanzig Sekunden jetzt schon, kein Bild, kein Ton, kein Video, nur Text, so | |
| wenig Entertainment, so reizarm. Was machen Sie überhaupt noch hier? | |
| Ach, so. Sie lesen auch die gedruckte sonntaz? Das ist natürlich etwas | |
| anderes. Da besteht noch Hoffnung, dass sich Ihre Neuronen nicht | |
| vollständig ans Netz angepasst haben. Dass ihr Hirn vom vielen Browsen noch | |
| nicht ganz wirr geworden ist. | |
| Also ganz langsam. Es geht um ein Buch: "Wer bin ich, wenn ich online bin … | |
| und was macht mein Gehirn solange?" Nicholas Carr hat es geschrieben. Die | |
| zentrale These haben Sie gerade gelesen. Aber wenn Sie nur schnell | |
| drübergeflogen sind, weil man ja so drüberfliegt meist heute, über die | |
| Nachrichtenschnipsel, Youtube-Häppchen und Bildergalerien, dann jetzt noch | |
| mal zum Mitdenken. | |
| Nicholas Carr ist ein US-amerikanischer Literaturwissenschaftler. Er hat | |
| einen Essay geschrieben mit dem Titel "Is Google Making Us Stupid?". Also: | |
| Macht Google uns dumm? Google kann in diesem Fall auch etwas freier mit | |
| "das Internet" übersetzt werden. Die Langfassung, die Carr nun als Buch | |
| auch auf Deutsch präsentiert, findet auf einer technisch-historischen | |
| Zeitreise die Antwort: Vielleicht macht uns das Netz nicht dumm, aber es | |
| macht uns vor lauter Hyperlinks hyperhyperhektisch und dadurch | |
| wahrscheinlich ein bisschen weniger klug. Mit Carr: "Das Netz zieht unsere | |
| Aufmerksamkeit auf sich, nur um sie dann zu zerstreuen." | |
| Denn das Hirn ändert sich, es entstehen neue Verknüpfungen, alte werden | |
| gekappt. Das Netz wiederum ist ein Medium, das unser Hirn und unser Denken | |
| prägt, argumentiert Carr, weil es bestimmte neuronale Verbindungen schafft | |
| oder stärkt. Die im dorsolateralen präfrontalen Kortext. Die | |
| Entscheidungen. Link. Klick. Link. Kein Klick. Link. Klick. So wie jedes | |
| neue Instrument das Denken geprägt hat. Bücher etwa, wenn wir mal ein paar | |
| Jahrhunderte zu Gutenberg zurückblicken. Vorname Johannes. Erfinder des | |
| Buchdrucks! | |
| Vorher las kaum jemand, und die Art des Lesens, dieses ruhigen Studierens, | |
| hat das menschliche Denken geprägt. Wie später auch die Schreibmaschine, | |
| das Fernsehzappen, der Computer. Das Internet nun aber prägt das Hirn ganz | |
| besonders, weil es so viele Instrumentarien in sich vereint, weil es so | |
| vielen unserer Sinne eine technische Verlängerung bietet - dem Lesen, dem | |
| Hören, dem Schauen. Weil da so viele Reize sind, wollen wir am liebsten | |
| alle auf einmal wahrnehmen, weil wir dem Irrtum erliegen, je mehr Wissen | |
| man sich reinklicke, desto klüger werde man. Weit gefehlt, sagt Carr und | |
| führt für diese These eine fast schon internetmäßige, aber wohlgeordnete | |
| Fülle an Studien auf: Um zu verarbeiten, brauchen wir Zeit und Muße. Wir | |
| haben ein Arbeitsgedächtnis und ein Langzeitgedächtnis. | |
| Das Arbeitsgedächtnis kann nur eine sehr begrenzte Zahl von Informationen | |
| verarbeiten. Es dauert ein wenig, bis sie sich im Langzeitgedächtnis | |
| niederlassen. Wenn wir das Arbeitsgedächtnis aber mit neuen Reizen | |
| überfrachten, schwappt kaum noch etwas hinüber in den Langzeitspeicher, | |
| sondern es läuft alles durch. Je intensiver wir unsere digitalen | |
| Sinnesverlängerungen nutzen, desto eher laufen sie Gefahr, uns zu betäuben, | |
| so wie Marshall McLuhan das schon befürchtet hat, der glaubte, dass das | |
| Medium die Message bestimmt. | |
| Man kann sich das wohl ein wenig vorstellen wie Essen von McDonalds. Man | |
| isst viel und wird nicht besonders satt. Ganz anders verhält sich das mit | |
| so einer ordentlichen Gourmetschwarte von Buch. Da ist im dorsolateralen | |
| präfrontalen Kortex, den Google und all diese Netzlinks in Bewegung | |
| versetzen, wenig los, das Umblättern ist ja keine wirkliche Entscheidung. | |
| Das Hirn ist eher unterfordert. Aber das, was man so liest, kann sich eher | |
| setzen. Nicholas Carr bemüht für seine Grundthese Nathaniel Hawthorne. | |
| Der Schriftsteller, der am Sehnsuchtsort der Ruhe und Kontemplation auf | |
| einer beschaulichen Wiese rastet, die zur nachhaltigen | |
| Informationsverdauung einlädt. Dieser Hawthorne ist Carrs bürgerlicher | |
| Gegenentwurf zum Hyperhektiker. Wen wundert es da, dass der | |
| Feuilletonherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein kleines | |
| Vorwort geschrieben hat, auch er ein Anhänger der Zerstreuungsthese. | |
| Carrs Werk ist ein plausibel belegter Rettungsversuch des bürgerlichen | |
| Buchwesens. Eine vernünftige Warnung vor dem potenziellen Klickmonster | |
| Internet, vor der Effizienzmaschine Google, die mit ihrem Scanprojekt | |
| Google Books Bücher digital zerhäckselt und zerfetzt und so den Sinn des | |
| Buchs, des vertieften Lesens, torpediert. | |
| Aber wer sich die Hawthornsche Wiesenruhe gönnt, dem fällt durchaus auch | |
| auf, dass die Angst vor den gefährlichen Wissensfluten des Buchs einmal | |
| eine ganz ähnliche war. Macht es nicht die Finger kaputt, die Augen, das | |
| Hirn ganz wirr? Und haben nicht auch diese alten Angstapologeten gedacht, | |
| dass ihre Sorge im Gegensatz zu allen anderen vorherigen jetzt aber | |
| wirklich mal berechtigt war? | |
| Na gut, was wusste man damals schon über den dorsolateralen präfrontalen | |
| Kortex. So ganz ohne Hirnforschung. Aber was war das überhaupt noch mal? | |
| Ach, googlen Sie's ruhig schnell. | |
| Nicholas Carr: "Wer bin ich, wenn ich online bin …: und was macht mein | |
| Gehirn solange? Wie das Internet unser Denken verändert". Aus dem | |
| Englischen von Henning Dedekind. Blessing Verlag, München 2010, 384 Seiten, | |
| 19,95 Euro | |
| 17 Dec 2010 | |
| ## AUTOREN | |
| Johannes Gernert | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA |