# taz.de -- Debatte Leitkultur: Sind Sie integriert? | |
> Die ganze Hysterie um die bedrohte deutsche sogenannte Leitkultur, die | |
> durch die Sarrazin-Debatte erneut ausgelöst wurde, ist nichts als eine | |
> Mogelpackung für den Sozialneid von oben. | |
Bild: Protest-Inszenierung der "Bürger-Bewegung" Pro Deutschland, die 2011 ins… | |
Seit Thilo Sarrazins Bestseller fühle ich mich nicht mehr gut integriert in | |
die Bundesrepublik Deutschland. Nicht weil ich ihn gelesen hätte, sondern | |
weil ich mich geniere, ihn mir zu kaufen. Ausweichen konnte ich dem Buch | |
allerdings nicht, Stücker hundert Exemplare liegen auf einer Palette direkt | |
neben der Kasse der nächstgelegenen Buchhandlung. Ich hätte mir einfach | |
eins nehmen, es dem vermutlich aus einer türkisch-deutschen Familie | |
stammenden Buchhändler hinlegen und ihm zuraunen können: "Nur für die | |
Recherche!" | |
Andererseits ist dieser Händler ein Profi, er hätte kühl den Preis | |
eingetippt und mir das Buch sogar als Weihnachtsgeschenk verpackt. Nein, | |
das muss ich zugeben, ich habe Sarrazins Bestseller einzig und allein | |
deshalb nicht gelesen, weil er mir peinlich ist. Wegen dieser | |
Ehrpusseligkeit habe ich mich aus der folgenreichsten Diskussion des Jahres | |
gestohlen. Und da ich damit meine staatsbürgerliche Pflicht, | |
gesellschaftliche Diskussionen zu verfolgen, grob vernachlässigt habe, habe | |
ich mich freiwillig desintegriert. Denn heißt "Integration" nicht auch, an | |
politischen Prozessen zu partizipieren? | |
Das wollte ich nun genauer wissen, aber in einem halben Dutzend Fachbücher | |
zum Thema fand ich immer wieder denselben Hinweis, es sei in dreißig oder | |
vierzig Jahren Migrationsforschung noch nicht gelungen, zu einer | |
allgemeingültigen Definition von "Integration" zu gelangen. Der Begriff | |
verschwimmt, je nach Autor und Forschungsansatz, mit Absorption, Adaption, | |
Akkomodation, Akkulturation, Assimilation, Dispersion, Inkorporation, | |
Inklusion, Segregation und auch gern mit Angleichung und Anpassung. Da ist | |
es schwer für einen, der sich integrieren will, zu wissen, was von ihm | |
verlangt wird. "Soll ich mich eher assimilieren oder inkludieren, oder | |
vielleicht erst ein wenig adaptieren, dann dispergieren?" Das sind die | |
Diskussionen bei uns in Neukölln. | |
Und ich frage mich, ob ich die ganze Zeit überhaupt integriert gewesen bin. | |
Aber was bedeutet das Wort? Mein ehrwürdiges lateinisches Wörterbuch, | |
Menge-Güthling, achte Auflage, Berlin 1954, sagt, die "integratio" sei die | |
"Erneuerung" und die "Wiederherstellung". Das klingt doch erst einmal ganz | |
erfreulich, wirft aber Fragen auf: Soll sich derjenige, der sich | |
integriert, erneuern? Eigentlich häutet er sich eher, als dass er sich | |
wiederherstellt. Und dass sich das Aufnahmeland wiederherstellte, wäre | |
unlogisch, denn wenn etwas Neues oder ein Neuer hinzukommt, kann es | |
schlecht in einen Urzustand zurückkehren, es sei denn, der Neue wäre eine | |
Art verlorener Sohn, ein dringend Vermisster. | |
Vielleicht könnte man sich darauf einigen, dass, wenn sich Menschen | |
ansiedeln, dadurch das ganze Land erneuert wird. Den "melting pot" habe ich | |
mir als einen gigantischen Eintopf vorgestellt, der umso besser schmeckt, | |
je mehr unterschiedliches Gemüse hineingeworfen wird. Ich hoffe, es fühlt | |
sich jetzt niemand als Gemüse verunglimpft. | |
Denn das Bild stimmt gar nicht, nicht einmal die Etymologie stimmt. In | |
einem politologischen Lexikon finde ich unter "Integration" den Hinweis, | |
dieses Wort stamme zwar vom lateinischen "integratio", aber das heiße | |
"Einbeziehung". Politologenlatein ernüchtert. Nix mit Erneuerung, aber | |
immerhin hat der Vorgang, so übersetzt, zwei Seiten. Wo einbezogen wird, | |
gibt es einen Einbeziehenden und einen Einbezogenen. "Einbeziehung" lässt | |
nicht mehr an einen armen Teufel denken, der partout Deutscher werden will, | |
aber nicht weiß, wie er es anstellen soll, sondern an die deutsche | |
"Gastarbeiter"-Politik (deren Neuauflage gerade von der Industrie gefordert | |
wird). | |
Weil hier Leute dringend gebraucht wurden, wurden welche aus Italien, | |
Griechenland oder der Türkei einbezogen beziehungsweise erst einmal | |
herangezogen. "Einbezogen", das sollte nicht heißen, mit anderen, gar den | |
Altdeutschen, in einen Suppentopf geworfen, sondern funktional eingebaut zu | |
werden wie in eine Maschine. Die Gastarbeiter kamen zwar nicht in Politik | |
und Kultur vor, aber standen doch an ihrer Baustelle, an ihrem | |
Fließbandplatz, in ihrer Imbissbude ihren Mann. | |
Wenn es damals "Integrationsverweigerer" gegeben hat, dann waren es Staat | |
und Gesellschaft selbst, die den Giuseppe nur bei der Arbeit und sonst | |
nirgendwo dabeihaben wollten. Eine gute Nachricht für Leute wie mich, die | |
sich nun entspannt zurücklehnen können: Nicht ich muss das Land | |
einbeziehen, sondern das Land mich. | |
Wenn es mir beispielsweise mit Horst Seehofer kommt, macht es mir kein | |
intelligentes Angebot. Denn, bitte, was soll man dazu sagen, wenn | |
ausgerechnet ein Bayer empfiehlt, "Integrationsverweigerer härter | |
anzupacken"? Immerhin hat der bayerische Landtag bis heute das Grundgesetz | |
nicht anerkannt, unter anderem, weil bayerische Politiker es für ein "Werk | |
des säkularisierten Geistes unseres Jahrhunderts" hielten und vielleicht | |
noch immer halten. | |
Solche Fundamentalisten würden gnadenlos durch die Einbürgerungsprüfung | |
rasseln. Es sei ohnehin jedem geraten, sich gründlich vorzubereiten, bevor | |
er den Fragenkatalog des Bundesamts für Migration beantwortet. Da steht | |
beispielsweise: "Was ist Deutschland nicht? Eine Demokratie. Ein | |
Rechtsstaat. Eine Monarchie. Ein Sozialstaat." Liberale und Linke sollten | |
nicht ihrem ersten Impuls nachgeben und "Sozialstaat" ankreuzen, denn das | |
ist Deutschland offiziell noch immer. | |
Legte man diesen Test dem Durchschnittsdeutschen vor, wäre man vielleicht | |
überrascht davon, wer alles schlecht integriert ist. Weiß denn jeder | |
Deutsche, wie viele Bundesländer es gibt, Mallorca nicht mitgerechnet? Weiß | |
er, wie viele 1990 hinzugekommen sind? Muss er das überhaupt wissen? Muss | |
einer Goethe gelesen haben oder wenigstens den Texter der Nationalhymne | |
kennen? Muss einer, der hier leben will, deutscher sein als die Deutschen? | |
Muss er, wenn er den großen arabischen Aufklärer des 12. Jahrhunderts, | |
Averroës, für anregender als Kant hält, in einen sicheren Drittstaat | |
abgeschoben werden? Und wenn das Grundgesetz "unsere Werteordnung" ist, wie | |
Armin Laschet gesagt hat, ist damit auch der Artikel 15 gemeint ("Grund und | |
Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der | |
Vergesellschaftung … in Gemeineigentum … überführt werden")? | |
"Leitkultur" versteht nur, wer nicht dumm fragt. Sie ist nicht nur der | |
Schrecken der Immigranten, sondern auch die Hoffnung all der Eingeborenen, | |
die von der Globalisierung überfordert sind. Die selbst ernannten Bewahrer | |
der Leitkultur behaupten, sie sei, vom Lindwurm bis Lena Meyer-Landrut, aus | |
demselben Teig geknetet. Doch der Kuchen fällt auseinander, sobald er aus | |
der Form gelöst wird. | |
So heißt es im Grundsatzprogramm der CDU, das es wagt, den Begriff der | |
"Leitkultur" zu definieren, noch vor den üblichen Bekenntnissen zu | |
Freiheit, Toleranz, Geschichte und Abendland: "Bedingungen unseres | |
Zusammenlebens sind zuerst: die deutsche Sprache zu beherrschen, | |
achtungsvoll dem Mitbürger zu begegnen und zu Leistung und Verantwortung | |
bereit zu sein." Es ist wichtig, dass ein Zugereister Deutsch lernt, damit | |
ihn Sarrazin oder Seehofer auch beleidigen können. Aber ist es so typisch | |
deutsch, dem "Mitbürger achtungsvoll zu begegnen"? Ist es auch nur typisch | |
CDU? Sind deren Politiker, als sie zu einer angemessenen Erhöhung des | |
Hartz-IV-Satzes nicht bereit waren, damit ihren Mitbürgern achtungsvoll | |
begegnet? Ist ihnen Guido Westerwelle achtungsvoll begegnet, als er in | |
Sozialhilfewohnungen spätrömische Dekadenz vermutete? Oder sind Arme keine | |
Mitbürger? | |
Achtung der Armen ist, scheint es, von der Leitkultur nicht vorgesehen, | |
nicht von dieser jedenfalls. Und genau betrachtet, sieht die Leitkultur | |
immer genauso aus wie der Pinsel, der sie jeweils verkündet, im Glauben, | |
alle sollten sein wie er. Und da frage ich mich, warum ich der leistungs- | |
und verantwortungsbereiten Leitkultur der CDU, der katholischen der CSU, | |
der protestantischen der SPD oder irgendeiner andern hinterhertrotten soll, | |
und ob es nicht viele gute Gründe dafür gibt, all denen die Integration zu | |
verweigern, die sie andern verweigern? | |
[1][Le Monde diplomatique] Nr. 9366 vom 10.12.2010 | |
17 Dec 2010 | |
## LINKS | |
[1] http://www.monde-diplomatique.de | |
## AUTOREN | |
Stefan Ripplinger | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kolumne Gott und die Welt: Leere Hände, leere Debatte | |
Ein Imam wollte Julia Klöckner nicht die Hand schütteln. Warum auch immer – | |
aber mit fehlender Treue zur Verfassung hat das nichts zu tun. | |
Debatte Rechtspopulismus: Nicht immun gegen Parolen | |
Steht Deutschland bald eine neue Rechtspartei ins Haus? Ein Jörg Haider | |
oder Geert Wilders hätte auch hierzulande gute Chancen. Schuld daran ist | |
die Sarrazin-Debatte. | |
Kommentar Westerwelle: Was kommt nach Westerwelle? | |
Man kann Westerwelle vieles vorwerfen, doch sein Rücktritt birgt Gefahren. | |
Ein FDP-Chef Lindner stünde für Wirtschaftsliberalismus – nur mit | |
menschlichem Antlitz. | |
Ein Jahr mit Thilo Sarrazin: Mist zu Gold | |
365 Tage mit der Dauerschleife Thilo Sarrazin gehen zu Ende. Und ich weiß | |
jetzt, dass Inhalte nicht zählen und Moral gebeugt werden muss. Meine 10 | |
Lektionen, die ich gelernt habe. | |
Studie zur Einbürgerung: Deutschland wird deutscher | |
Erstmals seit 2000 steigt die Zahl der Einbürgerungen wieder leicht an, wie | |
Anfragen der Linkspartei ergeben. Den höchsten Zuwachs gibt es in Hamburg | |
nach einer Kampagne. |