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# taz.de -- die wahrheit: Gestillte Nacht
> Eklat beim Krippenspiel: Eine weihnachtliche Hauptrolle für Susi Mops.
Sie konnte es kaum fassen: Meine Güte - sie hatte die Hauptrolle bekommen!
Die Hauptrolle!!! Wie lange hatte sie davon geträumt? Doch immer gab es
eine, die schöner war als sie. Die größer war. Begabter.
Die zweite Stimme im Chor oder einer der Hirten, das war jedes Jahr drin.
Aber sonst? Wie gern wäre sie nur ein einziges Mal einer der Engel gewesen.
Schon das hätte ihr gereicht. Aber der Krippenspielleiter meinte immer nur:
"Du? Ein Engel? Ach, Susi, ich bitte dich! Hast du schon mal in den Spiegel
geschaut?" Und damit war das Thema erledigt.
Dabei konnte sie schon vor der ersten Probe sämtliche Texte auswendig. Und
das sogar noch besser als diejenigen, die die Rollen tatsächlich bekommen
hatten. Aber nun … Sie - Susi Mops! Beim Krippenspiel!! Die Maria!!!
Eigentlich müsste ihr Anna-Belinda Müllerwied leid tun. Magen-Darm-Virus.
So kurz vor der Aufführung. Eine kranke Maria … Noch nicht mal Lebkuchen
blieben drin. Ganz übel. Aber dafür dürfte sie nun Anna-Belindas Rolle
spielen.
Ausgerechnet sie: Susi Maria Mops! Denn natürlich konnte niemand außer ihr
so schnell Anna-Belindas Text auswendig. Einen Tag vor dem Krippenspiel.
Susi hüpfte vor Freude von einem Bein aufs andere. Manchmal passieren wohl
doch noch Wunder. Gerade vor Weihnachten.
Nur wollte Susi sich nicht damit zufrieden geben, einfach nur den Text
herunterzuleiern. Das konnte doch jeder. Sogar Anna-Belinda. Susi hingegen
wollte ein Krippenspiel, das den Leuten im Gedächtnis blieb. Das den Engeln
die Tränen in die Augen trieb. Das die himmlischen Heerscharen zum
Jubilieren bringen sollte.
"Authentisch!", hatte der Krippenspielleiter bei den Proben immer wieder
gesagt. Er war Diakon mit gruppendynamisch-sozialtherapeutischer
Zusatzausbildung. "Wir machen das alles authentisch." Und daran hielt sich
Susi. Am Heiligen Abend, mitten in der Kirche, im
Sechzehn-Uhr-Gottesdienst. Sehr authentisch!
Susi hatte extra die ganze Nacht an ihrem Text gearbeitet, damit alles
passen würde. Hatte hier etwas gestrichen. Dort etwas eingefügt. Und immer
drauf geachtet, dass auch das Reimschema weiterhin stimmt. Schließlich
sollte Josef doch nicht seine Einsätze verpassen.
Und so kam es, dass sich der ursprüngliche Text: "Die Guten und die Bösen /
wird nun das Kind erlösen / mit Taten und Gedanken / die Lahmen und die
Kranken …" bei Susi schließlich so anhörte: "Drum seid mir nun nicht böse,
/ wenn ich das Mieder löse, / denn eh das Kind nicht trank, / wird es
vielleicht noch krank …"
Was mit dem Reimschema ganz wunderbar hinhaute, sodass Josef - rein
theoretisch - seinen Einsatz hätte bekommen können. Doch Josef war mehr als
irritiert, als Susi zur Untermalung ihrer Worte ihre Rüschenbluse
aufknöpfte und den Ausschnitt ihres Wollunterhemdes zur Seite schob, um das
Kind - also die Babypuppe von Sandra Koschlinski - an ihre Brustimitation -
einen beherzt aufgeblasenen, apricotfarbenen Luftballon mit Edding-gemalter
Brustwarze - führte, um es zu stillen.
Hei, da war was los mitten in der Kirche, am Heiligen Abend, im
Sechzehn-Uhr-Gottesdienst. Josef bekam keinen Ton mehr heraus, weil ihm der
Mund so offen stand wie die Stalltür in Betlehem, die Engel flatterten wild
durcheinander, weil sie von ihrem Platz schräg hinter dem Altar nach vorne
preschten, um auch etwas mitzubekommen, und die Hirten - die schwer
pubertierenden Grönmann-Zwillinge aus der Neubausiedlung, die weitaus
Schlimmeres gewohnt waren, was Brüste betrifft - brachen in nicht enden
wollendes Gelächter aus. Der Krippenspielleiter mit seiner
gruppendynamisch-sozialtherapeutischen Zusatzausbildung stimmte zur
Krisenintervention derweil "O du fröhliche" a cappella an, um die Gemeinde
zu beruhigen.
"Aber es war doch einfach nur authentisch!", maulte Susi hinterher, "ein
Baby, das muss doch gestillt werden, so kurz nach der Geburt. Auch Jesus!"
Und sie verstand ganz und gar nicht, warum ausgerechnet sie in diesem Jahr
die Einzige war, die nach der Aufführung keine Lebkuchen als Dankeschön für
ihren Einsatz beim Krippenspiel bekam.
21 Dec 2010
## AUTOREN
Ilke S. Prick
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