# taz.de -- Schnee ist das bessere Anthrax: Deutschland schafft sich ab | |
> Eine Reise mit der Bahn fühlt sich an, als hätte der internationale | |
> Terrorismus doch noch gesiegt. Das Land liegt darnieder. Dabei ist doch | |
> bloß Winter und Rehe äsen. | |
Bild: Wenn gar nix geht, geht immer noch der Schlitten. | |
AUS DEM EIS taz | Gegen die neue Waffe des internationalen Terrorismus ist | |
das weiße Pülverchen namens Anthrax nur besserer Puderzucker. Dieses weiße | |
Pulver hat die Republik seit Tagen fest im Griff: Schnee. | |
Auf deutschen Autobahnen werden linke Überholspuren nicht mehr geräumt, | |
raunt der öffentlich-rechtliche Seichtfunk NDR 2. Deutsche, der | |
internationale Terrorismus bedroht eure wichtigste Kulturleistung! Wo soll | |
das hinführen, zumal der eigene Zug auch schon lockere 70 Minuten | |
Verspätung hat, und die zweite Zughälfte von Berlin nach Köln und Bonn | |
"witterungsbedingt" sowieso fehlt? | |
In Katastrophensituationen vertrauen die Menschen ganz besonders den | |
Radioprogrammen der ARD, hat die Medienforschung herausgefunden. Doch auch | |
deren Informationskanäle sind von den Feinden der Zivilisation fast schon | |
lahmgelegt, weil zwischen die Werbeblöcke und die in der Weihnachtszeit | |
verbindlich zu spielende "Chris Rea/Band Aid/Wham/Do they know its/Last | |
Christmas"-Schleife nur noch ins minütlich-monströse angewachsenen | |
Verkehrshinweise passen. Und jetzt alle Staus ab 10 Kilometer Länge … | |
Die Bahn redet schon gar nicht mehr so gern vom Wetter, allerorten weicht | |
die Kersttagsfreid der Übellaunigkeit. Auf Radio1 live vom WDR schlägt sich | |
der alte Redaktionskollege Gerd Felser als NRW-Bahnsprecher wacker, und | |
auch die Moderatorin läuft zu Formen auf. Wenn der öffentlich-rechtliche | |
Rundfunk doch nur die Politiker auch mal so in die Zange nehmen würde! Aber | |
dem Deutschen bedeuten Zugverspätungen, Staus und Autobahnwanderbaustellen | |
nun mal mehr als die schnöde Politik. | |
Dabei ist es nur Winter und sauschön. Im weißen Wald da draußen äsen | |
friedlich die Rehlein, am Bahnsteig in Hannover räumt ein von der DB AG | |
vermutlich mies entlohnter Leiharbeiter mit einem an einen Benzinrasenmäher | |
gemahnenden Gefährt den Schneematsch so zielsicher, dass nur Wartende im | |
1.-Klasse-Abschnitt was abkriegen, im Bahnhof Haste hält endlich mal wieder | |
der ICE (weil in Stadthagen die Weiche eingefroren ist), ein Schaffner | |
teilt Gratiskaffee aus. Im Teutoburger Wald dann Wintermärchen pur, und | |
weil fast alle Züge 60 bis 90 Minuten Verspätung haben, fährt die Bahn auch | |
wieder im Takt. | |
Was machen da schon kleine Ungereimtheiten wie die an der berühmten Brücke | |
von Remagen, wo der nette Bahnmensch in seinem Wärmekabuff auf Gleis 2/3 | |
sogar extra den geheimen Dienstcomputer konsultiert, wo denn der IC nach | |
Köln bleibt. Fährt zwischen Andernach und Remagen. Aha. Kommt gleich rein, | |
auf Gleis 1. Also rüber, der Fahrstuhl hat schon Weinachtsurlaub, sei ihm | |
gegönnt. Dann am Gleis auch die heiß ersehnte Ansage, so mit "hat | |
Einfahrt", und "planmäßige Abfahrtzeit war" und "bitten, die | |
Unannehmlichkeiten zu entschuldigen". | |
Und dann kommt der IC auch an, man kann ihn schon in der Kurve sehen und er | |
ist so weiß und schön und schnell. Und er wird immer schneller. Und | |
schneller. Dann reift plötzlich die Erkenntnis: Der bremst gar nicht! | |
Koffer, ältere Damen und sonstige Reisende treten, ach was: springen von | |
der Bahnsteigkante zurück, der Zug heizt durch, Schneegestöber. | |
Danach liegt der Bahnhof Remagen wieder in tiefer Ruhe. | |
Winterweihnachtsruhe. Anruf bei Felser, der hat seine Diplomarbeit damals | |
über die taz geschrieben, der versteht alles und kann alles erklären. Geht | |
aber nicht dran. | |
Die Anzeige verheißt jetzt einen Regionalexpress nach Köln, sogar nur zehn | |
Minuten zu spät. Leute, zehn Minuten, da geht doch noch was! Und dann | |
kommt, völlig unangesagt und überraschend - noch ein IC. Kommt immer näher. | |
Wird langsamer. Ganz laaaaaaangsam. Und hält. Die älteren Damen hassten | |
los, Weihnachtsfreude im Gesicht. | |
Also: Alles wird gut. Und wenn Deutschland sich wirklich mal abschafft, | |
dann ganz anders, als sich das dieser Sarrazin vorstellt. Wem das nicht | |
passt, der kann über die Feiertage ja nach London reisen. Eine Nacht im | |
Flughafenfeldbett und ein besonderes Weihnachten ganz ohne öffentlichen | |
Nahverkehr am 25. Dezember inbegriffen. | |
21 Dec 2010 | |
## AUTOREN | |
Steffen Grimberg | |
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