# taz.de -- Wladimir Kaminer über deutsche Weihnachten: "Alle verstecken sich … | |
> Wladimir Kaminer verlässt Weihnachten seine Familie und geht tanzen. | |
> Viele Deutschen hingegen verstecken sich an Heiligabend hinter fetten | |
> Gänsebraten, sagt er. "Das ist doch nicht lebendig!" | |
Bild: Kaminer: "Das sieht doch aus wie der Tod" | |
taz: Herr Kaminer, lassen Sie Ihre Kinder an Heiligabend tatsächlich allein | |
zu Haus? | |
Wladimir Kaminer: Nein, meine Frau bleibt bei ihnen, während ich in der | |
Volksbühne eine Party für die Leute mache, die niemanden haben oder aber | |
auch einfach keine Lust darauf, mit der Familie zu Hause zu sitzen. Dafür | |
ernte ich gerade auch schon böse Blicke - von meiner Frau! | |
Die deutsche Version von Weihnachten ist also nicht so Ihr Fall? | |
Hier verstecken sich alle zu Hause hinter ihrem fetten Gänsebraten, jeder | |
zieht sich zurück in sein Heim, das ist doch nicht lebendig, das sieht doch | |
alles aus wie der Tod! Dazu kommt das, was meine Frau den Faschismus der | |
Natur nennt: das Wetter! Die Kälte! Der Schnee! Ich persönlich glaube | |
nicht, dass es das war, was der liebe Gott wollte. Ich glaube, seine Idee | |
von einem gelungenen Weihnachtsfest ähnelt eher dem, was wir in der | |
Volksbühne abziehen werden. Tanzen, reden, zusammen sein. | |
Weihnachten ist eben eher ein Familienfest … | |
Ja, das mag Sinn machen, wenn man seine Familie nur einmal im Jahr sieht. | |
Ich aber sehe meine jeden Tag, deshalb gehen wir an Weihnachten aus. | |
Richtig heftig feiern wir aber erst Silvester, mit einem Feuerwerk, das der | |
Eroberung Berlins 1945 nahekommen soll. Die Feuerwerkskörper beziehe ich | |
über eine Firma in Polen, allerdings dürfen die nicht vor dem 29. Dezember | |
geliefert werden, das gilt wohl sonst als eine Art terroristischer Akt. | |
Bevor es am 24. 12. in der Volksbühne richtig losgeht, werden Sie lesen. | |
Werden Sie wenigstens dabei ein wenig Besinnlichkeit aufkommen lassen? | |
Das weiß ich noch nicht genau. Am liebsten aber möchte ich etwas lesen, von | |
dem ich mich bisher nicht getraut habe es zu veröffentlichen. | |
Das Thema des Abends lautet: "Die Weihnachtsgesänge der weißrussischen | |
PARtysanen" - was bitte schön ist denn das? | |
Mein Freund ist Weißrusse. Er war gerade erst dort, bekam von den | |
politischen Vorgängen im Land selbst aber nicht viel mit - das Internet ist | |
dort in weiten Teilen lahmgelegt, das Fernsehen eine Art Waffe des | |
bestehenden Systems. Alle Geschichten meines Freundes sind nichts als | |
Klagen, und das lässt sich mit den Partisanenliedern gut ausdrücken. | |
Deshalb haben wir das als Thema gewählt. | |
Letztes Jahr haben Sie auch schon am Heiligabend in der Volksbühne | |
gefeiert. Mal ehrlich, wie viele haben sich hinter ihren Gänsekeulen | |
hervorgewagt? | |
Ich kann mich erinnern, dass wir allesamt auf so einer Art Sandsäcken | |
saßen, weil die Volksbühne damals gerade renoviert wurde. Ein bisschen sah | |
es aus wie im Krieg. Was die Anzahl der Besucher angeht, bin ich nicht so | |
kleinkariert. Hauptsache, es stehen mehr Leute vor der Bühne als darauf. | |
Die Musik spielt übrigens bei einer Party überhaupt keine Rolle. Ihre | |
Lieblingslieder hören die Leute zu Hause in ihrer Küche. Auf Partys ist der | |
DJ wichtig, nicht der Song! | |
Ist Ihre kaukasische Schwiegermutter mit dieser Art, Weihnachten zu feiern, | |
einverstanden? | |
Oh, sie kommt zu uns. Es war gar nicht so einfach, sie durch die russischen | |
Behörden und die Schneemassen hierherzubekommen! Aber nun sitzt sie im | |
Flugzeug. | |
Jetzt kandidieren Sie doch nicht, wie 2006 angekündigt, als Berliner | |
Bürgermeister - was wird 2011 trotzdem besser? | |
2011 wird bombastisch, das hab ich einfach im Urin. Ich hoffe, dass nach | |
der Integrationsdebatte von 2010 nun eine echte Diskussion beginnt. Eine, | |
die nicht die schlecht Gekleideten, die Schwächeren als Schuldige ausmacht, | |
sondern nach oben blickt. Dort liegen die echten Mängel, nicht mal so sehr | |
bei den Politikern, sondern bei den Banken. Gut, wir sitzen wohl alle in | |
einem Boot, trotzdem glaube ich, dass die Banken handeln müssen. Man muss | |
die Stärkeren zur Verantwortung ziehen. In Russland ist es derzeit ähnlich, | |
dort drischt man nun auf die Kaukasier ein. | |
Ihr allererster Text "Wodka rasiert" erschien am 22. 12. 98 in der taz, es | |
ging um die Unterschiede zwischen russischem und deutschem Weihnachten. | |
Seither werde ich etwa zweimal täglich zu diesem Thema interviewt. Ich weiß | |
mittlerweile schon gar nicht mehr, was ich darauf noch antworten soll. Ich | |
glaube, die Russen feiern einfach gerne, zu jeder Gelegenheit. Bloß nicht | |
alleine! | |
23 Dec 2010 | |
## AUTOREN | |
Ariane Lemme | |
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